Die Stunde der toten Augen
die Dinge, die ihn umgaben, für sich zu behalten. Das machte ihn bei seinen Vorgesetzten beliebt. Trotzdem gab es wohl im Stab keinen anderen Offizier, der die Lage, in der sich die Truppe befand, so genau kannte und gleichzeitig so nüchtern einschätzte wie er. Barden hatte keine Illusionen. Er war ohne Pathos und ohne nennenswerte Hoffnungen auf eine Besserung der Kriegslage. Er war das, seit er an der Ostfront stand. Zuvor hatte er sich für den Krieg nur von der theoretischen Seite her interessiert. Manchmal hatte er kleine militärpolitische Abhandlungen für die „Wehrmacht" geschrieben.
Aber das lag lange zurück. Er war ein vorsichtiger Mensch und hatte sich in den Junitagen betont neutral verhalten, als ein alter Kamerad aus dem ersten Weltkrieg ihn etwas umwunden, aber immerhin verständlich genug danach befragt hatte, was er zu tun gedenke, wenn sich ein Teil des gehobenen Offizierskorps dazu entschließe, Hitler abzusetzen und Staatsgeschäfte und Kriegführung selbst in die Hand zu nehmen. Der Gedanke daran war Barden nicht unsympathisch gewesen. Er versprach sich davon sogar einiges und versicherte seinen Kameraden strengstes Stillschweigen und größte Sympathie. Aber er betonte ebenso bestimmt, daß er sich nicht in der Lage fühle, an dieser Auseinandersetzung aktiv teilzunehmen, Barden war ein kluger Mann. Er beurteilte die Lage zu nüchtern, als daß er den Leuten vom Offizierskorps eine Chance gab. Er kannte die scharfen Zähne der Parteimaschine, und er entschied sich dafür, nicht zum Märtyrer zu werden.
Als er nun mit seinem Neffen über die wirkliche Lage an der Front sprach, tat er das, indem er sich an alles erinnerte, was sich ereignet hatte, bis die Heere zum Stehen gekommen waren. Der Herbst dieses Jahres war im gewissen Sinne entscheidend für den weiteren Verlauf des Krieges gewesen. Er war vorüber. Nun kam der Winter. Barden dachte zurück.
Im August durchbrach die Rote Armee die dünnen deutschen Sicherungen an der ostpreußischen Grenze. Beiderseits der Stadt Memel rückten ihre Kolonnen bis zur Ostsee vor. Das hieß für die deutsche Kurlandarmee: „Abtrennung."
Den August hindurch spitzte sich aber gleichzeitig die Lage auf dem Balkan derartig zu, daß man damit rechnen mußte, beträcht-liche Teile der dort besetzten Länder in Kürze zu verlieren. So kam es auch. Rumänien erklärte Deutschland den Krieg, und die Rote Armee griff an. Bald darauf wälzte sich das deutsche Heer auf seinem Rückzug durch Ungarn. Aber dennoch standen die Teile der Roten Armee, die unter dem Oberbefehl von Rokossowski und Tscherniakow sich zum Angriff auf Ostpreußen vorbereiteten, Deutschland am nächsten. Hier schien sich zu entscheiden, was in den nächsten Monaten geschah. Und es entschied sich auch.
Im September schloß Finnland Frieden mit der Sowjetunion. Bereits Anfang Oktober griff die Rote Armee Ostpreußen zum zweiten Male an. Sie brach gestärkt und unwahrscheinlich gut ausgerüstet aus ihren Stellungen hervor. Sie nahm Goldap und marschierte auf Gumbinnen zu.
Sie griff nicht nur hier an, sondern auch im Bereich der Heeresgruppe Nord, die sie auf dem schmalen Festlandstreifen zwischen der Ostsee and der Rigaer Bucht zusammendrängte.
Unter Aufbietung aller vorhandenen Kräfte gelang es schließlich, den sowjetischen Angriff noch einmal zum Stehen zu bringen. Aber das änderte nichts daran, daß sich die Rote Armee in Ostpreußen befand und daß es sich nur um eine verhältnismäßig kurze Zeit handeln konnte, bis sie erneut antrat, um endgültig zum entscheidenden Schlag auszuholen.
Die moralische Verfassung der deutschen Truppen war schlecht. Zudem mangelte es an Menschen. Die Divisionen wurden mit oberflächlich ausgebildetem Ersatz aufgefüllt. An die Stelle von erfahrenen Soldaten des Landkrieges traten Flieger und Matrosen, Verwaltungsangestellte aus den Stäben und Volkssturmmänner, die der Kampftaktik und den Erfahrungen der sowjetischen Soldaten nichts entgegenzusetzen hatten. Dazu gab es wenig Material. Es schien, als verfüge Deutschland über keine Flugzeuge und Panzer mehr. Man sah nur selten schwere Artillerie. Das vorhandene Material aber war abgenutzt, überholungsreif.
Die Geschütze waren ausgeleiert, und aus den Munitionsfabriken in Deutschland kamen Patronen an die Front, die aus lackiertem Blech bestanden. Sie blieben in den Gewehren stecken, verklemmten die Schlösser. Die Fahrzeuge waren ohne Ersatzteile. In den wenigen Werkstätten gab es nicht einmal
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