Die Stunde der toten Augen
gegenüber dreißig Schützendivisionen liegen und zwölf verschiedene Panzerverbände. Die
Artillerie will ich dir gar nicht aufzählen. Aber bis der Russe angreift, wird sich diese Zahl noch erhöhen. Was glaubst du, was sich hier abspielt, wenn es losgeht?"
Alf griff nach einer Zigarette. Als sie brannte, stand er auf und ging ein paar Schritte in der Stube hin und her. Barden konnte sein Gesicht jetzt nicht
mehr erkennen, denn die Petroleumlampe, die an der Wand hing, war zu tief angebracht. Er hörte ihn nur sagen: „Gibt es irgendeinen Anhaltspunkt für den Beginn des Angriffs?"
Barden zog die Stirn in Falten. Er strich sich leicht über sein lockeres, stark gelichtetes graues Haar und sagte dann: „Nach dem, was wir bis jetzt wissen,
wird der Angriff noch eine Weile auf sich warten lassen. Ich meine den
Großangriff. Den werden die Russen kaum noch im alten Jahr anlaufen lassen. Sie sind vorsichtig. Sie brauchen offenes Wetter. Das heißt Kälte und
Schnee. Das ist ihre Zeit. Gestern sind Leute von dir zurückgekommen. Sie
haben festgestellt, daß in den Bereitstellungen Schlitten eingetroffen sind. Wenn sie ihre Schlitten in die Bereitstellungen bringen, heißt das, daß sie mit
Schlitten fahren wollen. Noch liegt kein Schnee. Vor Weihnachten wird es auch keinen geben. Danach wird der Angriff kommen. Wir werden gerade noch rechtzeitig von Ernestines Hochzeit zurück sein, um ihn zu erleben ..."
„Vielleicht ist es der letzte, den wir erleben ...", sagte Alf aus der Dunkelheit.
Barden schwieg. Nach langer Zeit sagte er: „Es wird zuvor noch eine Anzahl kleinerer Plänkeleien geben. An ein paar Stellen werden die Russen versuchen, günstigere Ausgangspositionen zu gewinnen." Er deutete mit dem Daumen der Hand, die auch die Zigarre hielt, nach der Tür. Es war eine unbestimmte Geste. Dann sagte er: „Sie werden es hier in dieser Gegend auch noch einmal versuchen. Es liegen Anzeichen dafür vor."
Alf sagte: „Sie waren ja schon einmal bis über Haselgarten hinaus, Damals..."
„Ja", unterbrach ihn Barden, „sie werden es wieder versuchen. Wie ich die Dinge sehe, werden wir ihnen nichts Wesentliches entgegensetzen. Wir werden sie nur abbremsen, nicht zurückschlagen."
„Du meinst, wir haben nicht die Kräfte dazu?"
„Es werden andere Dinge gespielt. Alles, was wir noch tun werden, ist, die Russen so lange zu bremsen, bis die Amerikaner weit genug in Deutschland sind. So sehe ich das. Verstehst du?"
„Ich verstehe. Und meine Kompanie?"
„Man wird sie zurücknehmen. Sie ist zu schade als Prellbock. Noch wird sie gebraucht. Man wird sie zurück verlegen, wenn es losgeht. Aber es sieht so aus, als ließe das noch ein bißchen auf sich warten." Er war kein Trinker, und der Alkohol setzte ihm zu. Er würde am Morgen furchtbare Kopfschmerzen haben, aber das war ihm jetzt gleich.
Auf der Straße vor dem Haus rollte eine Kolonne Fahrzeuge zurück. Munitionswagen. Die Motoren brüllten in die Nacht, und Alf, der mit gesenktem Kopf am Tisch stand, stellte sich die Gesichter der Fahrer vor. Schlecht rasiert, ungewaschen, über das Lenkrad gebeugt, mit angestrengten Augen die Dunkelheit absuchend, die durch die schmalen Lichtstreifen der Tarnscheinwerfer kaum erhellt wurde. Zigaretten in den Gesichtern. Glimmende Punkte in der Finsternis. Schweißgeruch und Tabaksqualm.
„Die Russen haben jetzt auch Radargeräte ... ", sagte Barden.
„Im Schwarzwald ...", murmelte Alf. „Ernestine heiratet im Schwarzwald. Mein schwarzer Anzug wird mir nicht mehr passen. Ich werde in der Uniform erscheinen müssen ..."
Eine Messe lesen
Während sich Zado sehr sorgfältig wusch, überlegte er, was das Mädchen gesagt hatte.
Er war den ganzen letzten Abend bei ihr gewesen, die Nacht hindurch und den folgenden Tag. Erst in der Dämmerung war er nach Haselgarten zurückgekommen. Er hatte sich zuvor bei Alf abgemeldet. Der hatte ihn verpflichtet, nicht länger als bis zur Dämmerung zu bleiben, und Zado war zur abgemachten Zeit wieder im Dorf gewesen. Er hatte in der Unterkunft niemand vorgefunden außer einem Obergefreiten, der dafür bekannt war, daß er zwischen den Einsätzen nur stundenweise nüchtern war und im übrigen ständig schlief, weil er sich von seinem Lager auf der Strohmatratze am Boden nur erhob, um weiter zu trinken, bis er wieder umsank. Der Mann war harmlos. Er redete viel, wenn er trank, aber er war gemütlich. Er lag auf einer Strohmatratze und sah aus glasigen Augen zu, wie Zado eine
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