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Die Stunde der toten Augen

Die Stunde der toten Augen

Titel: Die Stunde der toten Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Thürk
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bunte Seidentuch in der Hand hielt, das er von dem unbekannten Mädchen aus Frankfurt geschickt bekommen hatte. Er hielt es vorsichtig an einem Zipfel zwischen den Fingerspitzen, denn es war über und über mit Blut und rötlichgelber Hirnmasse bespritzt. Auf den Dielen lag, ein wenig verkrümmt, der Körper des Oberkellners aus Stuttgart. Sein Kopf bestand nur noch aus dem Unterkiefer, an dem ein paar schlaffe Hautfetzen hingen. An einem Riegel des Fensters baumelte die Maschinenpistole. Der kleine Oberkellner hatte sich erschossen.
    Timm drehte sich um und befahl: „Raus, los! Hier gibt's nichts mehr zu sehen!"
    Bindig ging hinter Zado her, und Paniczek folgte ihnen. Der Leutnant ging mit Timm zur Schreibstube. Er hatte das Soldbuch des Toten in der Hand und ein paar Briefe, die er in seinen Taschen gefunden hatte.
    „Wie hat der das bloß fertig gekriegt?" Zado sah Paniczek an.
    Der bewegte unmutig die Schultern, noch immer sein Seidentuch mit den Fingerspitzen hochhaltend. „Er hat den Strick am Abzug festgebunden."
    „Und?"
    „Und ... und ... Strick am Abzug, anderes Ende am Fenster, Lauf in die Schnauze und mit beiden Händen angepackt und nach hinten umkippen lassen. Kann jeder Idiot!"
    „Macht aber nicht jeder", sagte Zado. „Muß seinen Grund gehabt haben!" Paniczek sah ihn wütend an.
    „Er konnte sich woanders erschießen. Nicht ausgerechnet bei meinem Tuch, was von dem Mädchen ist und ganz neu, noch nicht einmal am Hals gehabt, der Idiot!"
    Es war wie immer in den letzten Stunden, bevor sie das Quartier verließen. Bindig kannte diesen Zustand und fürchtete ihn. Aber er wußte so gut wie Zado oder wie jeder andere, daß nichts dagegen zu tun war.
    Eine seltsame Unrast packte ihn. Er war nicht imstande, zwei Minuten hintereinander das gleiche zu tun oder auch nur auf dem gleichen Fleck zu sitzen. Was er auch anfing, es mißlang ihm. Dazu kamen eine Anzahl körperlicher Übel. In der Magengegend erhob sich ein Gefühl der Leere. Der Herzschlag wurde fühlbar schneller und unregelmäßiger, die Glieder vollführten wie von selbst allerlei fahrige, nervöse Bewegungen, und die Haut sonderte kalten Schweiß ab. Das alles wurde an diesem Morgen noch verstärkt durch den Selbstmord des kleinen Oberkellners. Der sonst gerade noch erträgliche Brechreiz war mit einemmal unangenehm aufdringlich, und der unnatürliche Druck in den Därmen riß nicht ab.
    Zado stocherte noch eine Weile mit dem Löffel in der Marmeladenbüchse herum. Aber der Heißhunger, den er zuweilen
    nach einer Süßigkeit verspürte, war mit einem Male einem Gefühl des Ekels und der Übelkeit gewichen.
    „Es fängt gut an", sagte er zu Bindig, als sie draußen hinter dem Haus über der Latrine hockten. „Wenn's so weitergeht, kann Alf bald eine neue Kompanie zusammenstellen."
    Auf der Dorfstraße wurde gepfiffen, und dann rief Timm mit seiner blechernen Stimme: „Gruppen vier und sechs antreten!"
    Vor dem Haus, in dem die Schreibstube untergebracht war, parkten ein Lastwagen und ein Schützenpanzer. Der Lastwagen war für die Mannschaften bestimmt, aber sie fanden nicht alle Platz. Es blieben ein halbes Dutzend übrig, unter ihnen auch Bindig und Zado.
    Timm winkte ihnen: „Los ... 'rein da!"
    Er zeigte auf den Schützenpanzer, und sie stiegen ein. Es war das Fahrzeug für Alf, denn inzwischen war heller Tag, und wenn Tiefflieger kamen, gab es in dem flachen Gelände keine Deckung. Alf stieg als letzter ein. Er trug eine Kombination. Die meisten der Soldaten erblickten ihn zum ersten Male darin.
    Als sie eine Weile gefahren waren, sagte Zado zu Timm; „Wer wird jetzt die Sprengladungen anlegen, Herr Unteroffizier?"
    Timm gab nicht gleich Antwort, aber an seiner Stelle sagte Alf: „Ein anderer wird sie legen."
    „Jawohl, Herr Leutnant", sagte Zado, „aber ob der ihn ersetzen kann? Vom Sprengen verstand der Kleine nämlich verdammt viel..."
    „Unsinn!" Alf machte eine nachlässige Handbewegung. „Jeder einzelne ist zu ersetzen. In der deutschen Wehrmacht gibt es keinen Menschen, der nicht morgen ersetzt werden kann, wenn er heute fällt."
    „Jawohl, Herr Leutnant", sagte Zado, und nach einer Weile nochmals: „Jawohl, das stimmt."
    Dann sah er Bindig an, und Bindig sah ihn an, und schließlich starrten sie beide auf die geriffelten Stahlplatten des Bodenbelages und schwiegen.
    Die gemordete Harmonika
    Die Einsatzübung war diesmal nur von kurzer Dauer. In einer Halle auf dem Flugplatzgelände war, den Luftaufnahmen eines

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