Die Stunde der Zeitreisenden: Hourglass 1
verdrehte die Augen.
»Weder noch.« Ich nippte an meinem Espresso. »Es kommt mir so vor, als hätte er irgendein Geheimnis, das vielleicht zu abwegig ist, um es zu glauben. Aber Geheimnisse hat schließlich jeder, stimmt’s?«
»Nicht jeder.« Sie wirkte plötzlich ein wenig angespannt und faltete das Geschirrtuch zusammen. »Ich habe keine Geheimnisse. Mein Leben ist ein offenes Buch. Gibt’s noch ein Drittens?«
»Ähm … ja.« Ich gab ein paar Löffel Zucker in meine Tasse und behielt Lily im Blickwinkel. »Drittens ist da noch Thomas’ bekloppte Regel, nach der es keine private Beziehung zwischen uns geben soll, und Michael scheint fest entschlossen, sich daran zu halten.«
»Vielleicht ist das gar nicht so schlecht. So hast du Zeit, ihn kennen zu lernen und dir über deine Gefühle für ihn klar zu werden.«
»Kann sein.«
»Nutz die Zeit. Du musst nichts überstürzen. Wenn er es jetzt wert ist, dann ist er es in einem Monat immer noch wert. Oder du nutzt einfach deinen aufgestauten Frust und rollst diese Tortenböden für mich aus.« Lily trat hinter die Theke und hob das Nudelholz vom Boden auf, wo ich es hingeworfen hatte. Sie spülte und trocknete es sorgfältig ab, dann bestäubte sie es mit Mehl.
Ich schaute ihr mit offenem Mund zu. »Woher wusstest du, wo es war?«
»Was? Äh … Da liegt’s doch immer.« Langsam stieg ihr das Blut in die Wangen. »Wieso fragst du?«
Wir starrten uns einen endlosen Moment lang wortlos an.
»Nur so.«
Sie hielt mir das Holz unter die Nase.
Ich schob die Ärmel hoch, nahm es entgegen und begann mit dem Ausrollen.
Als Lily und ich das Café nach unserer Schicht verließen, hatten sich die Regenwolken fast verzogen und die Sonne spiegelte sich in den Pfützen. Durch die enorme Luftfeuchtigkeit hing mein Haar schlaff herab.
Ich stopfte meine Regenjacke in den Rucksack und zog einen Zopfgummi aus der Seitentasche. Auf der untersten Stufe der Ladentreppe blieb ich stehen, hielt den Rucksack zwischen den Knien und drehte mein Haar zusammen.
In diesem Moment entdeckte ich Michael auf der anderen Straßenseite. Er lehnte an einem schwarzen Cabrio mit offenem Verdeck und hielt sich zwei Finger vor den Mund, um nicht zu lachen. Das tat er ziemlich oft. Ich fragte mich, ob er diese Angewohnheit schon hatte, bevor er mich traf.
Lily machte ein anerkennendes Geräusch. »Hm. Der Weihnachtsmann ist dieses Jahr aber früh dran, und guck mal, was er Leckeres mitgebracht hat.« Sie strich ihr Haar zurück und durchwühlte ihre Tasche, bis sie ein Pfefferminzbonbon gefunden hatte. »Adiós.«
»Stopp!« Ich hielt sie am Rucksackriemen fest und zog sie zurück. »An dem Leckerbissen wird nicht genascht.«
Sie schaute mich mit großen Augen an. »Ist er das Problem, von dem du gesprochen hast?«
»Das Problem, das tabu ist. Und gelegentlich eine schreckliche Nervensäge.« Und möglichweise verrückt.
»Oh, Mädchen.« Lily schüttelte den Kopf und schaute bewundernd in Michaels Richtung. »Das tut mir wirklich leid.«
»Was ist überhaupt mir dir los? Du gehst doch nie auf Jungs zu. Ich finde ihn ja auch ziemlich außergewöhnlich, aber trotzdem!« Er mochte eine Nervensäge sein, aber er war meine Nervensäge. Irgendwie.
Lily sah mich achselzuckend an. »Außergewöhnlich ist eine Untertreibung.«
»Bis später«, murmelte ich, sprang die letzte Stufe hinunter und rannte über die Straße.
»Hey.« Wieder war ich atemlos, aber ich kümmerte mich nicht darum.
»Hey«, erwiderte er. Ich wollte ihn berühren, als Test, um festzustellen, ob die Verbindung auch auf einer betriebsamen Straße und am hellen Nachmittag funktionierte. Mutig legte ich die Hand an seine Wange.
Er packte meinen Arm. »Soll ich gefeuert werden? Oder willst du mich umbringen?«
»Als Toter würdest du mir nichts nützen.« Obwohl ich nicht atmen konnte, wenn er mich berührte. Also hing es wohl davon ab, wer als Erster den Löffel abgeben würde. Er hielt immer noch mein Handgelenk umklammert, und mein ganzer Arm vibrierte.
Ich wünschte fast, sein Gerede über Zeitreisen wäre wahr. Er sah einfach viel zu toll aus, um Wahnvorstellungen zu haben.
»Steig ein.« Michael ließ meinen Arm los, nahm meinen Rucksack und öffnete die Beifahrertür. Ich sank auf den Ledersitz. Als er die Tür zuschlug und um den Wagen ging, schaute ich zum Café.
Lily stand nach wie vor an der Stelle, wo ich sie zurückgelassen hatte, und sah mir mit offenem Mund nach.
17. KAPITEL
Z errst du immer
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