Die Stunde des Jägers - EXOCET
Spaziergang«, meinte Hunter.
Devlin nickte. »Wir folgen ihr eine Weile und sehen dann weiter.«
Tanja hatte eine Leinentasche über der linken Schulter hä ngen und schritt rasch aus, schien die Bewegung und die frische Luft zu genießen. Am Abend sollte sie Rachmaninows viertes Klavierkonzert spielen. Dies war ein ganz besonderes Lieblingsstück von ihr, so daß die nervliche Anspannung, unter der sie wie so viele Künstler vor einem großen Konzert gewöhnlich litt, ausblieb.
Inzwischen hatte sie allerdings auch ihre Erfahrungen gesammelt. Seit ihren Erfolgen in Leeds und beim Tschaikowsky-Festival hatte sie sich stetig einen internationalen Ruf erworben. Für alles andere war nur wenig Zeit geblieben. Verliebt hatte sie sich nur einmal; dummerweise in einen jungen Militärarzt, der bei einer Fallschirmbrigade diente und im vergangenen Jahr in Afghanistan gefallen war.
Diese Erfahrung, wenngleich quälend, hatte sie nicht gebrochen. An dem Abend, an dem die Todesnachricht eingetroffen war, hatte sie eine ihrer besten Vorstellungen gegeben, sich
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aber anschließend von Männern ferngehalten. Mit solchen Beziehungen war zu viel Pein verbunden, und für eine Erklärung bedurfte man keines besonders intelligenten Psychiaters: Trotz Ruhm und Erfolg, trotz der Privilegien, die sie deshalb genoß, trotz Maslowskis machtvollem Einfluß an ihrer Seite war sie noch immer in mancher Beziehung das kleine Mädchen, das im Regen neben dem Vater kniete, der ihr so grausam genommen worden war.
Stetigen Schritts ging sie die Champs-Elysees entlang zur Place de la Concorde.
»Scheint ein Fitness-Fan zu sein«, merkte Devlin an.
Sie bog in den kühlen, friedlichen Jardin des Tuileries ein. Hunter nickte. »Dachte ich mir’s doch. Hatte so eine Ahnung, daß sie zum Louvre wollte. Folgen Sie ihr zu Fuß. Ich suche einen Parkplatz und warte am Haupteingang auf Sie.«
Im Jardin des Tuileries waren Skulpturen von Henry Moore ausgestellt, die sie sich flüchtig ansah. Devlin hielt sich im Hintergrund, aber sie fand offenbar kein Stück besonders anziehend und ging weiter durch den Park zum großen Palais du Louvre.
Tanja Woroninowa war ausgesprochen wählerisch. Sie schlenderte von Saal zu Saal, schenkte nur den Werken großer Meister ihre Aufmerksamkeit, und Devlin folgte ihr in diskretem Abstand. Einige Zeit verbrachte sie in der RembrandtGalerie im ersten Stock und blieb dann vor dem vermutlich berühmtesten Gemälde der Welt stehen – Leonardos »Mona Lisa«.
Devlin näherte sich ihr. »Finden Sie, daß sie lächelt?« versuchte er es auf englisch.
»Was meinen Sie damit?« gab sie in derselben Sprache zurück.
»Ach, im Louvre hält sich der alte Aberglaube, daß sie an manchen Vormittagen nicht lächelt.«
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Sie schaute ihn an. »Das ist doch absurd.«
»Sie lächeln aber auch nicht«, meinte Devlin. »Haben Sie Angst, es fiele Ihnen was aus der Krone?«
»Was reden Sie denn da für einen Unsinn?« versetzte sie, lächelte aber trotzdem.
»Wenn Sie die Würdevolle spielen, ziehen Sie die Mundwinkel nach unten«, sagte er. »Das steht Ihnen nicht.«
»Reden Sie von meinem Aussehen? Das ist mir gleichgültig.«
Da stand er, Hände in den Taschen des BurberryTrenchcoats, schwarzer Filzhut verwegen schief auf dem Kopf, und seine Augen waren vom kräftigsten Blau, das sie je gesehen hatte. Er hatte eine gutmütige Unverschämtheit an sich und eine Selbstironie, die sie recht attraktiv fand, obwohl er mindestens doppelt so alt sein mußte wie sie. Sie empfand ein plötzliches Ziehen, eine Erregung, die schwer zu kontrollieren war, und mußte tief Luft holen, um sich wieder zu sammeln.
»Entschuldigen Sie mich«, sagte sie und lief weiter.
Devlin gab ihr einen kleinen Vorsprung und folgte dann. Eine reizende junge Frau, aber aus irgendeinem Grunde verängstigt. Interessant, dem auf den Grund zu kommen.
Sie ging zur Grande Galerie, hielt vor El Grecos »Christus am Kreuz« inne und blieb lange stehen, schaute sich die ausgemergelte, mystische Gestalt an, ohne von Devlin Kenntnis zu nehmen, als er neben sie trat.
»Und was sagt Ihnen das?« fragte er sanft. »Sehen Sie dort Liebe?«
»Nein«, erwiderte sie. »Eher ein Aufbegehren gegen den Tod. Warum verfolgen Sie mich?«
»Tu ich das denn?«
»Ja, seit dem Jardin des Tuileries.«
»Wirklich? Wenn das stimmt, kann ich nicht sehr geschickt vorgegangen
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