Die Stunde des Jägers - EXOCET
gestochen.«
Sie blieb stehen, schaute ihn an, hielt sich wieder an sich selbst fest. »Was wollen Sie von mir, Professor Devlin? Soll ich überlaufen wie Viktor? Mir Tausende von Bildern ansehen in der Hoffnung, ihn vielleicht zu erkennen?«
»Jetzt haben Sie eine ursprünglich hirnrissige Idee vernünftig formuliert. Die IRA in Dublin würde das Material, über das sie selbst verfügt, nie aus den Händen geben.«
»Und warum sollte ich das tun?« Sie setzte sich auf eine nahe Bank und zog ihn neben sich. »Ich will Ihnen etwas verraten. Sie im Westen irren sich gewaltig, wenn Sie annehmen, daß alle Russen an der Leine zerren und nur auf eine Gelegenheit warten, das Land zu ve rlassen. Ich liebe mein Land. Es gefällt mir dort. Ich bin eine respektierte Künstlerin. Ich kann mich frei bewegen, selbst in Paris. Kein KGB – keine Männer in schwarzen Mänteln, die mich auf Schritt und Tritt überwachen. Ich gehe, wohin es mir beliebt«, erklärte sie dem Professor mit fester Stimme.
»Da Ihr Pflegevater Generalleutnant beim KGB ist und unter anderem die Abteilung V leitet, würde es mich auch wundern, wenn das nicht so wäre. Früher hieß die Abteilung übrigens 13. Für viele Menschen eine Unglückszahl, aber dann organisierte Maslowski die Behörde 1968 um. Am treffendsten ließe sie sich als Attentats-Büro umschreiben, aber so etwas braucht halt jede straff geführte Organisation.«
»Wie zum Beispiel die IRA?« Sie beugte sich vor. »Wie viele Menschen haben Sie wegen einer Sache, an die Sie glaubten, getötet, Professor?«
Er lächelte sanft und faßte ihr mit einer eigenartig vertrauten
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Geste an die Wange. »Verstanden, aber wie ich sehe, vergeude ich nur Ihre Zeit. Ich möchte Ihnen aber trotzdem etwas geben.«
Er zog einen großen braunen Umschlag aus der Tasche, der am Morgen von Fergusons Kurier abgeliefert worden war, und legte ihn ihr in den Schoß.
»Was soll das?« fragte sie mißtrauisch.
»London hat Ihnen in einem Anfall von Optimismus einen britischen Reisepaß mit einer neuen Identität zum Geschenk gemacht. Ihr Paßbild sieht umwerfend aus. Es liegt auch Bargeld bei, französische Francs und Hinweise auf Alternativrouten nach London.«
»Das brauche ich nicht.«
»Wie auch immer, Sie haben es jetzt. Und das hier auch.« Er nahm seine Karte aus der Brieftasche und reichte sie ihr. »Ich fliege heute nachmittag nach Dublin zurück. Sinnlos, mich noch länger hier herumzutreiben.«
Was nicht ganz der Wahrheit entsprach, denn der Kurier aus London war mit mehr als nur dem falschen Paß eingeflogen. Er hatte auch eine persönliche Nachricht von Ferguson an Devlin mitgebracht. McGuiness und der Stabschef waren stinkwütend. Ihrer Ansicht nach hatten sie mit der undichten Stelle nichts zu tun und wollten aussteigen. Devlin sollte die Vertrauensbasis wiederherstellen.
Zögernd steckte sie Umschlag und Karte in ihre Umhängetasche. »Tut mir leid. Sie haben sich umsonst einen langen Weg gemacht.«
»Sie haben meine Nummer«, sagte er. »Und können mich jederzeit anrufen.« Er stand auf. »Wer weiß, vielleicht bekommen Sie Lust, ein paar Fragen zu stellen.«
»Das bezweifle ich, Professor Devlin.« Sie streckte die Hand aus. »Auf Wiedersehen.«
Er hielt sie kurz fest, wandte sich dann ab und ging durch den
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Park zu der Bank, auf der Hunter saß. »Los«, sagte er, »setzen wir uns in Bewegung!«
Hunter kam hastig auf die Beine und lief hinter ihm her. »Was hat sich getan?«
»Nichts«, versetzte Devlin, als sie den Wagen erreicht hatten. »Totale Fehlanzeige. Sie wollte nichts damit zu tun haben. So, fahren Sie mich jetzt zu Ihrer Wohnung, damit ich meine Tasche holen kann. Dann dürfen Sie mich zum Flughafen bringen. Mit etwas Glück erwische ich noch die Nachmittagsmaschine nach Dublin.«
»Fliegen Sie zurück?«
»Allerdings.« Liam Devlin ließ sich in den Sitz fallen und zog sich den schwarzen Filzhut ins Gesicht.
Tanja Woroninowa sah sie anfahren und sich in den Verkehr auf der Rue de Rivoli einfädeln. Sie blieb stehen, dachte einen Moment lang über die Sache nach, verließ dann den Park, schritt den Gehsteig entlang, ging die außergewöhnlichen Ereignisse des Vormittags in Gedanken durch. Liam Devlin war ein gefährlich attraktiver Mann, da konnte kein Zweifel bestehen, aber vor allem hatte seine Geschichte sie sehr aufgewühlt, und Vorfälle aus der Vergangenheit, die besser vergessen
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