Die Stunde des Puppenspielers: Thriller (German Edition)
gab es Neuigkeiten im Radio: Alan Reade war gefasst worden. Danny schüttelte den Kopf. Jetzt war es wichtiger denn je, dass sie bei dieser Geschichte die Nase vorn hatten: Alle würden sich auf Alan Reade stürzen, doch es war eine falsche Fährte.
Dannys Handy klingelte. Er wäre beinahe nicht drangegangen, doch dann sah er eine Nummer, die er nicht kannte.
»Señor Sanchez, hier Dolores Donaire von der Universität. Ich habe heute Vormittag Ihren Artikel gelesen. Ich denke, wir sollten reden.«
»Sehr gern, aber wir müssen es telefonisch machen. Ich kann hier nicht weg.«
»Ich habe einen Kollegen wegen eines Profils für Orson konsultiert, und wir sind zu einigen Schlussfolgerungen gelangt. Haben Sie schon einmal von Dr. Benjamin Spock gehört?«
»Klar«, antwortete Danny. »Schlage deine Kinder nicht. Der Typ, oder?«
»Zu seiner Arbeit gehört ein bisschen mehr. Nach dem Zweiten Weltkrieg führte er eine Studie durch, in der er nachwies, dass es Soziopathen viel leichter fällt, Angehörige des anderen Geschlechts zu täuschen und zu kontrollieren als Personen des eigenen Geschlechts: Männer können Frauen täuschen, Frauen Männer. Angehörige ihres eigenen Geschlechts fanden sie allerdings immer unheimlich. Nehmen Sie das Beispiel Ted Bundy: Es fehlte ihm nie an weiblicher Begleitung, aber er hatte so gut wie keine männlichen Freunde.«
»Ich will ja nicht unhöflich sein, aber ich muss hier wirklich weitermachen. Was hat das mit Orson und seinen Opfern zu tun?«
»Seinen. Genau darum geht’s mir: Ich habe sorgfältig darüber nachgedacht, und jetzt glaube ich, dass er in Wahrheit eine Sie ist, Mr. Sanchez.«
»Orson ist eine Frau?«
»Klingen Sie nicht so überrascht. Der Vergewaltigungsaspekt hat mich darauf gebracht. Sie haben mich selber danach gefragt. Dieses Individuum ist offensichtlich intelligent, geduldig und extrem vorsichtig. Aber warum dann diese ›Idioten‹ hinzuziehen, wenn Sie mir den Ausdruck verzeihen. Männer wie Nicholas Todd, Ishmael Vertanness, Philip Cohen? Außenseiter und Loser, Männer, die so perfekt zum Profil eines brutalen Kriminellen passen? Was war es, das sie zu der Gleichung beitrugen?«
»Was?«
»Eine Frau kann physisch nicht in eine andere Person eindringen. Sie kann es mit Gegenständen tun, aber nicht mit ihrem Körper. Überlegen Sie: Wir haben es mit dem starken Drang zu tun, den anderen zu kontrollieren, zu erniedrigen, sein Leiden mitzuerleben. Diese abweichenden Fantasien rühren oft von etwas her, das in der realen Welt fehlt. Ich würde die Hypothese wagen, dass Orson in der Vergangenheit Opfer eines sexuellen Übergriffs oder einer Vergewaltigung war, wie es sich in seinem Drang, zu kontrollieren, zu dominieren, ausdrückt. Vielleicht ist das eine Art von Dämonenaustreibung. Da Orson Opfer war, hat Orson jetzt Macht und Kontrolle.
Das ist der Grund, warum ich Orson für eine Frau halte. Der Rest fügt sich ins Bild. Sie haben sich selber gefragt, wie um alles in der Welt jemand wie Vertanness seinen Opfern so nahe kommen konnte? Was für einen besseren Komplizen gibt es als eine Frau? Schauen Sie sich das Beispiel der Wests an. Die Mädchen stiegen zu Fred ins Auto, weil Rose bei ihm war. Es könnte auch wahrscheinlich sein, dass diese Frau in der Vergangenheit mit einer Art ›Stellvertretungsvergewaltigung‹ experimentiert hatte: Dadurch erkannte sie, wie unbefriedigend das ist. Es ist wie so oft, Mr. Sanchez: Der Missbrauchte wird zum Missbrauchenden.«
Er legte auf. Die Erkenntnis stürzte auf ihn herab wie ein Zentnergewicht. O Gott, es war nicht Callum Hacker und auch nicht Tommy Cain. Kein Mensch wusste, wer Orson war.
20
Er stand vor dem Spiegel, streckte den Busen heraus, strich sich mit den Fingern durch die Haare. Er würde sie wieder wachsen lassen, beschloss er, sie zu Zöpfen flechten. Er musste seine Erscheinung sowieso wieder ändern, warum also nicht?
Nackt von der Taille abwärts stand er da und schob die Finger in das haarige Dreieck der Schamhaare, kniff dann seine Schenkel zusammen und spürte die feuchte Wärme.
Er. Ihm. Seine.
Seine. Ihm. Er.
Er schaute in sein Gesicht, verzog die Lippen zu einem schüchternen Lächeln. Die Leute blickten viel zu lange in Gesichter. Sie schauten ihn an und sahen nie einen Mann. Aber er hatte es ihnen gezeigt. Hinter diesen Augen war einmal ein kleines Mädchen gewesen, aber davon war keine Spur mehr übrig. Dafür hatte er gesorgt. Kleine Mädchen waren schmutzig. Sie waren
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