Die Stunde des Reglers: Thriller (German Edition)
welche Art auch immer. Er hatte es hier mit Christian Senne zu tun, das war ihm inzwischen klar. Ihm würde er gar nichts sagen. Die Hand war frei.
»Meine größte Freude war es, die Kattenbergs zu erpressen«, sagte Christian Senne mit der elektronisch erzeugten Frauenstimme. »Eine halbe Million. Ein Klacks für die. Die dachten, ach, der arme Senne will auch ein bisschen Kohle, der arme Senne will auch mal an den Trog. Dabei haben sie mit diesem Geld ihre eigene Hinrichtung bezahlt. Wunderbar. Mit einer halben Million kann man viel Grausamkeit kaufen.«
Tretjak verhielt sich still, versuchte, seinen rechten Arm unbemerkt auszustrecken, in Richtung des rechten Fußes. Solange Senne monologisierte, hatte er eine Chance.
»Kennen Sie den Preis der Kriege, die wir geführt haben, in Jugoslawien, Tschetschenien, gegen die Al Kaida, gegen Gaddafi?«, kam es hinter ihm aus dem Lautsprecher. Aber es war keine Frage an ihn, die Stimme fuhr fort: »Der Preis heißt Grausamkeit. Sie haben diese Leute doch auch benutzt, Herr Tretjak, die Leute, die von diesen Kriegen übrig geblieben sind. Spezialisten der Grausamkeit sind das, Leute, die man auf der ganzen Welt kaufen kann, gute Leute sind das, Waffenexperten, Ärzte, Sprengmeister, Chemiker …«
Tretjaks Arm schmerzte, jede Bewegung schickte heiße Nadeln durch seine Blutbahnen. Einen Moment lang blieb es still in dem dunklen Raum. Nur der Lautsprecher rauschte. Tretjak hielt unwillkürlich die Luft an. Hatte Senne den freien Arm gesehen?
»Es macht Spaß, grausam zu sein, o ja«, meldete sich die Stimme schließlich wieder, »das habe ich in den letzten Wochen entdeckt. Sie sind mein Zeuge.« Fast schien es Tretjak so, als hätte sich der Tonfall der Stimme verändert. Doch das war nicht möglich. »Aber die Frage ist doch: Macht es mir Spaß, grausam zu sein, weil ich die Gene meines Vaters habe? Oder macht es uns allen Spaß, grausam zu sein, wenn wir die Gelegenheit dazu haben? Was meinen Sie?«
Der Stromschlag kam schon, bevor Tretjak auch nur hätte ansetzen können zu einer Antwort. Und dann die Wiederholung:
»Was meinen Sie?«
4
Der Anschlag
August Maler saß auf seinem Balkon, in dem Gartenstuhl, eine Decke brauchte er heute nicht, er hatte seinen Daunenparka an. Es war ein ungewöhnlich schöner Tag für November. Es war drei Uhr nachmittags, vor sich hatte er eine Tasse Früchtetee, immer Früchtetee, an Kaffee war in seinem Zustand gar nicht zu denken. Alles, was ihn aufregte, sollte er vermeiden, jeden Stress. So lautete die Dauerfloskel der Krankenschwestern und der Ärzte, denen er gegenübertrat. »Schonen Sie sich, soviel Sie können.« Eine Schwester sagte einmal: »Sie müssen einfach brav sein, ganz brav.«
Maler nickte immer nur, klar, sagte er. Nebenbei versuchte er, eine Mordserie zu klären und den Mord an seinem Freund und Kollegen. Aber sonst, alles ruhig. Sein Körper mochte es anders sehen, aber ihm tat das Gefühl gut, mehr zu sein als nur der Patient, der Herzpatient.
Noch einmal nahm er das Buch, »Löwenherz«, dieses schreckliche Buch, die Staatsbibliothek hatte es mit einem grauen Einband versehen mit der roten Aufschrift: Verwendung ausschließlich für wissenschaftliche Zwecke. Zwei Autoren, von Kattenberg und Senne, die sich darin kurz vor dem Zusammenbruch des Dritten Reiches noch einmal versicherten, was sie für tolle Männer waren, zu welcher tollen Rasse sie gehörten, warum der Nationalsozialismus wiederkommen würde, auch wenn Deutschland jetzt verlieren sollte – die letzte große Schlacht. Warum der Nationalismus keine Frage des Glaubens sei, sondern ein Naturgesetz. An einer Stelle erklärte Senne, wie wichtig und weise es gewesen sei, die deutsche Jugend zu infiltrieren. »Diese Saat wird immer wieder aufgehen.«
Im längsten Kapitel berichteten die beiden auf mehr als fünfzig Seiten in aller Anschaulichkeit von den Morden und Grausamkeiten, die sie persönlich, mit eigener Hand, begangen hatten. In einer Passage überlegten von Kattenberg und Senne, wie viele jüdische Männer sie mit dem Messer kastriert hatten. Waren es acht, zwölf oder doch vierzehn? Ja, sagte Senne, »niemand soll später sagen, wir hätten uns gedrückt vor den harten Aufgaben, niemand soll später sagen, wir seien nur Männer des Wortes gewesen. Nein, wir waren Männer der Tat.«
Was wäre gewesen, dachte Maler, wenn mein Vater ein solches Buch geschrieben hätte, wenn mein Vater ein Massenmörder gewesen wäre? Maler wusste
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