Die Stunde des Reglers: Thriller (German Edition)
nicht, wer sein leiblicher Vater war, es hatte ihn auch nie interessiert. Er war als Baby von einem Ehepaar adoptiert worden, und seit er denken konnte, hatte für ihn festgestanden: Das waren seine Eltern. Sie hatten ihm früh von der Adoption erzählt, es hatte keinen Unterschied gemacht. Das hatte er wenigstens geglaubt, bis heute. Aber angenommen, er würde plötzlich erfahren, wer sein leiblicher Vater gewesen war und dass er Schreckliches getan hatte, was wäre dann?
Maler fiel das Mittagessen mit den beiden Alten ein, den Nazikindern, im Restaurant »Käfer«, wie sie ihn geradezu diabolisch nach seiner Familiengeschichte gefragt hatten, als würden sie so gerne ihr Gift weiter versprühen. Er hatte den wütenden Christian Senne, den Sohn des Schlächters, verstehen können, dessen Zorn angesichts der Tatsache, einem solchen Schicksal ausgesetzt zu sein. Maler hatte die hasserfüllten Aufsätze von Christian Senne gelesen, in denen er sein Land dafür geißelte, so zu tun, als hätte es ein paar Monster gegeben, aber ansonsten seien die Deutschen eben Verführte gewesen, keine Täter. Was für eine Verlogenheit, brüllte Senne in seinen Texten. Auch diese Wut konnte Maler nachvollziehen.
Aber nun dieses Foto: Christian Senne und Frank Miller, der Neonazi, der mit seinem Mähdrescher den einen von Kattenberg zerstückelt hatte. Es deutete alles daraufhin, dass Senne diesem Miller das »Löwenherz«-Buch gegeben hatte, dass er sich von Miller hatte feiern lassen als Sohn des alten Senne. Miller war ein gewalttätiger, unverbesserlicher Neonazi, das stand fest. Was war das für eine merkwürdige Geschichte?
»Leg das Buch jetzt weg, lass es sein.« Inge stand in der Balkontür. »Dieses Buch macht einen krank, da bin ich wirklich sicher.«
Maler legte es weg. Er hatte schon den ganzen Tag Fieber. 37,9 am Morgen, beim letzten Messen waren es 38,4. Inge meinte, sie sollten die Klinik benachrichtigen. Maler hatte kein Argument dagegen vorzubringen, außer dass er überhaupt keine Lust auf die Klinik hatte. »Lass uns bis morgen warten. Ich habe den Jungs doch auch versprochen, heute mal wieder Tipp-Kick mit ihnen zu spielen.«
Die letzten Tage waren dramatisch gewesen. Nachdem man von den Vergiftungsattacken auf die New Yorker Tretyak-Kinder erfahren hatte, hatte man sich von den New Yorker Kollegen die drei SMS weiterleiten lassen, die der Bankier vor dem Tod seiner Kinder erhalten hatte. Es hatte nur ein paar Augenblicke gedauert, bis Maler den grenzenlosen Zynismus der SMS in Verbindung mit dem »Löwenherz«-Buch gebracht hatte. Der alte von Kattenberg hatte im Buch die Methode gepriesen, Frauen zwischen Leben oder Tod ihrer Kinder wählen zu lassen. Auf diese Weise könnte man »die Judenmütter auch moralisch für alle Zeiten vernichten«. Und dann die Widmung im Buch, die gleiche Formulierung wie in der letzten SMS. »Gewidmet unseren Nachkommen.«
Die Nachkommen: Die von Kattenbergs wurden gerade systematisch ausgelöscht. Und bei der Familie Senne? Martin Senne hatte nur einen Sohn gehabt, Christian. Wer formulierte solche abartigen Nachrichten? Was war ihre tatsächliche Botschaft?
Es hatte geradezu perfekt gepasst, dass ein Anruf von John Pendelburg aus Penzance gekommen war. Der Chefredakteur erzählte ihm von einem Gespräch mit einem Fotografen, der Frank Miller einen Tag vor dessen Tod fotografiert hatte. Pendelburg hatte ihm den Auftrag gegeben, weil er überlegt hatte, vielleicht noch eine zweite Geschichte über den toten Tretjak zu bringen. Doch der Fotograf hatte nicht nur Miller fotografiert, sondern auch einen weiteren Mann, der gerade zu Besuch bei Miller gewesen war. Ein älterer Mann, den Miller als seinen Freund vorstellte. »Miller hat den Fotografen dann zugetextet, was das für ein toller Mann sei, ein Führer und so ein Quatsch. Es gab dann noch Ärger, weil der Typ sich auf keinen Fall fotografieren lassen wollte. Er hat ihn aber geknipst, ohne dass der was gemerkt hat.« Pendelburg hatte am Ende des Gesprächs zugesagt, das Bild mit den beiden gleich zu mailen.
Und das war das Bild: Frank Miller und Christian Senne, eindeutig Christian Senne. Einen Tag bevor Miller starb, bevor Gritz starb. Nach der offiziellen Sterbeurkunde war Senne da schon gut eine Woche tot. Auf dem Bild sah er aber ziemlich lebendig aus.
Kommissar Bendlin hatte sofort reagiert und das Grab von Christian Senne auf dem kleinen Friedhof nahe Oberhaselbach öffnen lassen. Der Rechtsmediziner, der dabei war,
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