Die Stunde des Reglers: Thriller (German Edition)
Art Gestell, mit dem Kopf nach unten, fast senkrecht, seine Schultern waren mit bleigefüllten Manschetten beschwert, jede wog zehn Kilo. Aus dieser Lage katapultierte er den Oberkörper so weit nach oben, dass er mit den Händen die Zehenspitzen greifen konnte. Dreißigmal – und dann das Ganze gleich noch mal. Und noch mal.
Er hörte dabei mit Kopfhörern einen aggressiven Techno-Mix, der kurz leiser wurde, als der Signalton kam: Mail erhalten. Es gab unterschiedliche Töne für unterschiedliche Absender und unterschiedliche Dringlichkeiten. Dieser Ton bedeutete sehr dringend. Mandelbaum stoppte seine Übung, schälte sich aus dem Gestell, streifte die Manschetten ab und trocknete sich mit dem Handtuch den Schweiß vom Gesicht und von den Schultern. Dann griff er zum Telefon, das mit einem Klettband am Oberarm befestigt war, und trat an die große Glasfront des Studios. Von hier aus konnte er sein Wohnviertel Neve Zedek sehen, den Hafen von Jaffa und das Meer. Aber dafür interessierte er sich nicht, nicht jetzt.
Ehud Mandelbaum machte sich Sorgen um Gabriel Tretjak, seit Tagen. So viel war klar: Tretjak hatte Probleme. Er steckte in Schwierigkeiten, und zwar in richtigen Schwierigkeiten. Das jedenfalls sagte die Datenlage. Und wenn einer über gute Daten verfügte und sie auch interpretieren konnte, dann er. Zwei verschiedene Notrufe waren schon eingegangen, einer von dem italienischen Gastwirt, einer von dem bayrischen Pfarrer. Die Mail des Kommissars war der dritte. Das Alarmsystem des Reglers war angesprungen. Aber warum so spät? Offenbar zu spät, wie er den Daten entnahm, die er durchforstet hatte.
In einem solchen Alarmfall war er das Informationszentrum. Informationen beschaffen und weitergeben, das war sein Job. Nichts sonst sollte er tun, das war die Abmachung mit dem Regler. Aber Ehud Mandelbaum hatte das Gefühl, dass er doch etwas tun musste, dass er die Abmachung ignorieren musste. Er wollte Tretjak helfen. Die Frage war nur, wie.
Das größte Problem, das er selbst in seinem Leben gehabt hatte, lag zwölf Jahre zurück. Damals war er sechzehn Jahre alt gewesen, ein mittelmäßiger Schüler in einem kleinen Zimmer im Reihenhaus seiner Eltern am Stadtrand von Tel Aviv. Eines morgens um sechs Uhr läutete es an der Tür, und als sein Vater aufmachte, sah er sich einer Gruppe von vier Männern in dunklen Anzügen gegenüber, die aus Amerika gekommen waren, ihm FBI-Papiere unter die Nase hielten – und einen israelischen Haftbefehl für seinen Sohn Ehud. Der Vater fiel aus allen Wolken, als er hörte, dass sein Sohn sich in Bereiche des US-Verteidigungssystems eingehackt hatte, in die sich nicht einmal der Präsident so ohne weiteres einloggen konnte. Bereiche, in denen Atomwaffen verwaltet und gesteuert wurden. Und das war schon vor drei Jahren passiert, da war Ehud gerade mal dreizehn gewesen. Seither fahndeten sie nach ihm, weltweit, nach dem besten Hacker der Welt, der unter dem Decknamen »Terminator« operierte und allerhand anstellte. Er verschob Gelder von den Konten der Großkonzerne auf die Konten von Hilfsorganisationen, er implantierte auf Kinderpornowebseiten hochintelligente Viren, die nicht nur die Seiten zerstörten, sondern auch gleich die IP-Adressen der User an die Polizei schickten. Ehud Mandelbaum würde niemals den Blick seines Vaters vergessen, als er in Handschellen an ihm vorbei aus dem Haus zu einer schwarzen Limousine geführt wurde.
Alle Welt, also alle Welt der Mandelbaums, die Familie, die Freunde der Familie, der Anwalt der Familie – sie alle rechneten zunächst damit, dass dem Jungen eine Art Standpauke gehalten werden würde, dann wäre die Sache ausgestanden. Vielleicht würde man der Standpauke durch ein paar Wochen Sozialarbeit in einem Kibbuz noch etwas Nachdruck verleihen. Aber diese Welt hatte die Rechnung ohne eine andere Welt gemacht. Nachsicht und erzieherische Überlegungen waren nicht die Stärken des US-Verteidigungsministeriums, schon gar nicht, wenn es um Atomwaffen ging. Das Pentagon setzte eine unbarmherzige Vergeltungsmaschinerie in Gang. Und um Ehud Mandelbaum schlossen sich eiserne Gitter: die ganz realen des Untersuchungsgefängnisses – und die unsichtbaren der US-Justiz, der US-Diplomatie und der US-Geheimdienste.
Dort in der Zelle der Untersuchungshaft begann der blasse Ehud mit seinem Training. Dort hörte er auch zum ersten Mal den Namen Gabriel Tretjak. Die Familie setzte große Hoffnungen auf diesen Mann, der offenbar ein Freund
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