Die Stunde des Schakals (German Edition)
Miki Selma gerade damit telefonierte. Sie riss es ihr aus der Hand. Miki Selma sagte entschuldigend, dass der Nachbar leider unterwegs sei, aber Clemencia brauche sich keine Sorgen zu machen, eine Ersatztransportmöglichkeit sei schon organisiert.
Darüber machte sich Clemencia keine Sorgen. Sie begann bloß zu bereuen, was sie gerade in einem schwachen Moment zugesagt hatte. Eine Tür nur einen Spalt aufzumachen, das ging bei ihrer Familie nicht. So schnell konnte man gar nicht schauen, wie die gesamte Sippe sich im ganzen Raum gemütlich eingerichtet hatte. Clemencia fragte sich, was Matti Jurmela und seine finnischen Kollegen zu ihrem neuangeworbenen Überwachungspersonal sagen würden. Wahrscheinlich gar nichts. Sie würden nur mit offenem Mund dastehen.
Miki Selma und Miki Matilda beratschlagten, ob sie gegen die Sonne einen breitkrempigen Hut mitnehmen sollten oder doch lieber einen Schirm, den man notfalls auch zur Selbstverteidigung einsetzen konnte. Melvin war inzwischen verschwunden. Durch Constancia ließ er ausrichten, dass sie schon mal vorfahren sollten, er würde baldmöglichst nachkommen. Noch bevor Clemencia nachfragen konnte, hupte es draußen auf der Straße. Eine Autotür schlug, und gleich darauf erschien Claus Tiedtkes schlaksiger Oberkörper über dem Zaun.
«Wir sind so gut wie fertig, Meneer», rief Miki Selma.
«Hallo, Clemencia», sagte Claus Tiedtke.
«Hallo», sagte Clemencia, «was …?»
«Es geht um Leben und Tod, hat deine Tante gesagt.»
«Mikis!»
«Stimmt doch auch», verteidigte sich Miki Selma. «Wir jagen schließlich einen Mörder.»
«Ich wusste nicht …», sagte Clemencia. Ihr Handy klingelte. Sie ließ es klingeln und setzte neu an: «Ich habe mir diese Familie nicht ausgesucht. Ich …»
«Deine Familie ist nicht das Problem», sagte Claus Tiedtke.
«Sondern?»
«Du hättest dich mal melden können», sagte Tiedtke.
«Dein Handy läutet!», warf Miki Selma ein.
«Ich bin nicht taub», zischte Clemencia. Sie drückte nun doch auf die Taste mit dem grünen Telefonhörer. Es meldete sich Ex-Richter Hendrik Fourie. Er habe den Fahndungsaufruf im Radio gehört und sich zusätzlich ein wenig erkundigt. Das habe ihn tief beunruhigt. Oder täusche der Eindruck, dass gewisse Kreise in der Polizei Donkerkop gar nicht lebend zu fassen bekommen wollten? Er wisse, dass Clemencia auf ihn, Fourie, nicht besonders gut zu sprechen sei, aber er wolle sie trotzdem bitten, ihren Einfluss geltend zu machen. Es könne doch nicht sein, dass …
«Ich habe keinen Einfluss», sagte Clemencia. Nie war das so wahr gewesen wie gerade jetzt.
«Einer muss reden, und Donkerkop ist der Letzte, der es könnte», sagte Fourie.
«Herr Fourie …»
«Wenn ihr ihn abknallt, wird der Lubowski-Fall nie geklärt werden.»
«Herr Fourie, lassen Sie mich einfach in Ruhe!» Clemencia beendete das Gespräch.
«Los! Genug getrödelt!», rief Miki Selma von draußen. Sie stieg gerade in Claus Tiedtkes Citi Golf.
Ex-Richter Hendrik Fourie:
Warum mich der Mord an Lubowski nicht losgelassen hat, ist mir erst spät endgültig klar geworden. Anfangs war es eben ein spektakulärer Fall, in den Politik, Geheimdienste und Prominenz verwickelt waren und für den sich auch internationale Medien interessierten. Das ist für keinen Richter einfach nur Tagesgeschäft. Berufsethos und Empörung kamen hinzu, als ich merkte, wie die Aufklärung von allen Seiten hintertrieben wurde. Dass ich nicht dagegen ankam, habe ich zunehmend als persönliches Versagen empfunden. Selbst nach meiner Pensionierung saß der Stachel tief. Doch es ging nicht nur um mich, nicht nur um meine Vorstellung von Gerechtigkeit. Ich begriff, dass die Ereignisse vom 12. September 1989 uns alle betrafen und immer noch betreffen.
Mit den Schüssen auf Lubowski war die Stimmung im Land gekippt. Es war Nacht geworden, und als der neue Tag anbrach, war er anders als die Tage zuvor. Es reichte, wir hatten die jahrzehntelange Gewalt plötzlich satt, wir alle, die SWAPO und die Südafrikaner, Rassisten und Guerillakämpfer, die um ihre Privilegien fürchtenden Weißen wie die an die Fleischtöpfe drängenden Schwarzen. Kaum einer war sich dessen sofort bewusst, man merkte kaum, dass man mit weniger Überzeugung gegen die anderen hetzte, dass sich ein Schuss Gleichgültigkeit beimischte, wenn man sich über die Sauereien der Gegenseite aufregte. Doch im Nachhinein ist das Gefühl, das sich übers Land gelegt hatte, unverkennbar. Es war
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