Die Stunde des Schakals (German Edition)
die Hacke an den Unterstand des Wachdienstes und schlenderte betont unauffällig auf Clemencias geliehenen Citi Golf zu. Sie ließ Melvin einsteigen und fragte, was um Himmels willen hier los sei.
«Hier verbessert die Stadt Windhoek oder die Roads Authority oder was weiß ich wer die Infrastruktur», sagte Melvin stolz. «Im Interesse aller Bürger. Eventuelle Unannehmlichkeiten bitten wir zu entschuldigen.»
«Ihr könnt doch nicht einfach die Straße aufreißen!»
«Wenn einer durch die Schranke will, kriegen wir an unserer Baustelle jedes Wort mit», sagte Melvin.
«Aber …»
«Einen Tsotsi, der Dreck am Stecken hat, erkennen wir. Darauf kannst du Gift nehmen. Der braucht nur einen einzigen Satz zu sagen.»
Der Killer, hinter dem Clemencia her war, war kein gewöhnlicher Krimineller, er war etwas ganz anderes, doch das hätte Melvin sowieso nicht verstanden. Er hatte seine Erfahrungen gemacht, er kannte Katutura und all die schrägen Typen, die sich dort herumtrieben. Das war seine Welt, es gab keine andere, und das konnte man ihm auch nicht verübeln.
«Nur, was machen wir nachts?», fragte Melvin. «Wenn wir da weiterarbeiten, glaubt uns doch keiner mehr, dass wir bei der Stadt beschäftigt sind. Hätten wir schweres Gerät, könnte vielleicht einer als Nachtwache bleiben, damit nichts geklaut wird, aber so …»
«Nachts?» Erstaunt, ja fast ein wenig gerührt registrierte Clemencia, wie ernst ihr kleiner Bruder seine Aufgabe nahm. Sie sagte: «Nachts wird er nicht kommen.»
«Bist du sicher?»
Sie war sich plötzlich ganz sicher. Der Killer würde gar nicht kommen, weder tagsüber noch nachts. Er war durchaus bereit, große Risiken einzugehen, aber nur, wenn dabei etwas heraussprang. Hier waren die Chancen gleich null. Nicht nur, weil die Polizei alles überwachte, sondern weil sie schon jeden Nachbarn befragt und dabei nichts erfahren hatte. Zwar besaß der Killer bessere Druckmittel, aber die nutzten wenig, wenn man nicht wusste, gegen wen man sie anwenden sollte. Nein, der Killer würde versuchen, Donkerkop irgendwie anders aufzuspüren. Nur wie? Die Überwachung, zu der Clemencia ihre Familie eingespannt hatte, war jedenfalls mit größter Wahrscheinlichkeit sinnlos. Doch konnte sie jetzt alle zurückpfeifen? Sie sagte: «Der Killer braucht Informationen über den möglichen Aufenthaltsort Donkerkops. Dazu muss er dessen Freunde und Nachbarn befragen. Bei denen kann er aber nicht mitten in der Nacht klingeln.»
Melvin schien enttäuscht zu sein, dass er nicht vierundzwanzig Stunden am Tag Hilfspolizist spielen durfte. Clemencia sagte: «Wichtig ist, dass ihr morgen wieder auf dem Posten seid. Ich zähle auf euch.»
«Alles klar, bei Tagesanbruch!» Melvin nickte und kehrte zu seinen Kumpels zurück. Der Streifen Straße, den sie aufgerissen hatten, war etwa einen Meter breit und fünf Meter lang. Jetzt gingen sie mit Schaufeln in die Tiefe. Es sah nicht so aus, als würde ihr Eifer bald erlahmen.
Clemencia machte sich auf den Weg zum zweiten Einsatzteam. Außer dass die drei Frauen zusammen vier Lotterielose verkauft hatten, war nichts Außergewöhnliches vorgefallen. Irgendeinen Verdächtigen hatten sie erwartungsgemäß nicht bemerkt. Clemencia überzeugte auch sie, die Überwachung über Nacht auszusetzen, und fuhr dann in den Omurambaweg zur Redaktion der Allgemeinen Zeitung . Claus Tiedtke sagte, Clemencia könne sein Auto natürlich noch eine Weile behalten, aber er würde gern wissen, was los sei.
«Nun, der Killer wird irgendwie versuchen …», sagte Clemencia.
Er meine eigentlich, was mit ihr los sei, unterbrach Claus Tiedtke. Nach der Nacht kürzlich hätte er eigentlich gedacht, oder wenn schon nicht gedacht, dann wenigstens gehofft, dass zwischen ihnen beiden ein wenig mehr sei, als dass man dem anderen gern seinen Wagen leihe.
«Vielleicht können wir ein andermal darüber reden», sagte Clemencia.
Ganz, wie sie wünsche, meinte Claus Tiedtke, er wolle nur darauf hinweisen, dass er schon erwachsen sei. Er könne die Wahrheit durchaus ertragen.
Die Wahrheit war, dass Clemencia nicht wusste, ob er ihr etwas bedeutete. Dass sie jetzt auch nicht darüber nachdenken wollte. Dass es aber auf jeden Fall entschieden zu früh war, von «ihnen beiden» zu sprechen, als gehörten er und sie zusammen und hätten Wunder was gemeinsam. Na gut, sie hatte eine Nacht mit ihm verbracht, in der sie nicht allein sein wollte, und einen Morgen, an dem sie lieber allein gewesen wäre. Und?
Weitere Kostenlose Bücher