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Die Suende der Engel

Die Suende der Engel

Titel: Die Suende der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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Zwillinge waren. Er konnte ihn mit den bewundernden Augen eines Fremden beobachten, sich in die Ebenmäßigkeit seiner Gesichtszüge, in die schlanken, kräftigen Linien seiner Gestalt vertiefen. Es waren seltene, eigentümliche Empfindungen von Zweigeteiltsein. Meist waren sie zu sehr verschmolzen miteinander, als daß dieses Heraustreten aus der einen Seele und die Verwandlung in den Beobachter möglich gewesen wäre. Sie hatten oft miteinander über ihr Zwillingsdasein gesprochen, über ihre schicksalhafte, lebenslange Gemeinsamkeit. Beide empfanden sie gleich: Sie waren eins. Mario und Maximilian, Maximilian und Mario. Ihre Namen waren Zufall und hätten genausogut anders verteilt sein können. Ihre zwei Körper waren Zufall; der Körper des einen hätte ebensogut zum Namen des anderen gehören können. Daß sie mit zwei Identitäten herumliefen, erschien ihnen als eine eigenwillige Laune der Natur, die sich einen Spaß daraus gemacht hatte, eine Seele mit zwei Körpern auszustatten, und als Zeichen hilflosen Unverständnisses ihrer Eltern, die ihnen zwei Namen gegeben hatten.
    Und auch jetzt, da Maximilian für Augenblicke seinen Bruder aus der ungewöhnlichen Perspektive des Außenstehenden betrachten konnte, wußte er, daß sich dieses Gefühl sofort wieder auflösen würde; und noch während er dies dachte, schoben er und Mario sich schon wieder übereinander, und es war sein Spiegelbild, in das er blickte, seine Schönheit, die er bewunderte.
    Er stand ebenfalls auf, nahm seine Schuhe und Strümpfe in die Hand. Der Sand klebte an seinen nassen Füßen.

    »Wir sollten in die Klinik zurückfahren«, sagte er. »Du hast noch einen weiten Weg bis Hamburg. Und morgen mußt du früh aufstehen.«
    »Du hast recht«, stimmte Mario zu. Einträchtig stapften sie nebeneinander zu Marios Auto zurück. Die Sonne neigte sich bereits dem schwarzen Streifen am Horizont, einem Kiefernwald, zu.
    Maximilian blieb plötzlich stehen. Als ob er einer Eingebung folgte, sagte er: »Du verheimlichst mir etwas, oder? Es ist... ich kann es irgendwie fühlen...«
    Auch Mario war stehengeblieben. Er entgegnete nichts. Die dunkle Brille verbarg seine Augen, und Maximilian vermochte darin keine Reaktion auf seine Bemerkung zu erkennen.
     
     
    »Davies«, sagte Phillip, »ja, Andrew Davies. In London. Wie?«
    Er lauschte ins Telefon.
    »Nein, die Straße weiß ich nicht. Aber es ist Chelsea. Falls er da noch wohnt.«
    Einen Brief von Davies an Janet hatte er in all den Jahren gefunden, in ihrem Schreibtisch, in dem er schäbigerweise herumgeschnüffelt hatte. Ein einziger Brief, kurz und sachlich. Davies teilte ihr darin mit, daß er bereits seit Jahren für Scotland Yard arbeite und daß er nach London umgezogen sei. Keine Liebesschwüre, keine Sehnsuchtsbeteuerungen. Phillip hatte nun erneut nach dem Brief gesucht, um die Adresse zu erfahren, hatte ihn aber nicht gefunden. Das konnte bedeuten, daß Janet ihn bei sich hatte, und wozu, wenn nicht sie selbst die Adresse brauchte? Ihm war heiß geworden, und er hatte versucht, sich zu erinnern, wie die Straße hieß. Es fiel ihm nicht mehr ein, aber er meinte, Chelsea gelesen zu haben. »Ja... ja, danke, ich notiere...« Er klemmte den Telefonhörer
zwischen Ohr und Schulter, hielt mit der einen Hand den kleinen Notizblock fest, kritzelte mit der anderen die Nummer, die ihm von der Auslandsauskunft genannt wurde. Dann legte er auf, starrte auf das Papier und überlegte, ob er es wirlich wissen wollte...
    Er nahm den Telefonhörer erneut ab, wählte die Vorwahl von England, von London, dann die Nummer von Andrew Davies. Während er auf das Klingelzeichen lauschte, merkte er, daß seine Hände zitterten, daß ihm der Schweiß auf die Stirn trat.
    »Es ist alles in Ordnung«, flüsterte er sich beruhigend zu.
    In London wurde abgehoben. »Hallo?« fragte eine weibliche Stimme.
    Es war Janet.
    Phillip ließ den Hörer auf die Gabel fallen, als habe er sich an ihm die Finger verbrannt. Er starrte den Apparat an. Er hatte es geahnt, natürlich, im Grunde war er nicht im geringsten überrascht. Aber es hatte ihn wie einen elektrischen Schlag getroffen, Janet zu hören. Diese vertrauliche Stimme, die sich mit größter Selbstverständlichkeit am Telefon eines anderen Mannes meldete. Lebte sie in seiner Wohnung?
    Phillip ging mit langsamen, schweren Schritten ins Wohnzimmer, nahm ein Glas aus dem Schrank und schenkte sich einen Cognac ein. Er hatte sich seine Eifersucht mit so viel Willenskraft

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