Die Sünde des Abbé Mouret
gelangte man zu einem Wald von Orangen- und Zitronenbäumen,
die kräftig dem Boden entsproßten. Die geraden Stämme wurzelten
tief in Reihen brauner Säulen; die glänzenden Blätter überheiterten
den blauen Himmel mit heller Malerei, warfen deutlich
scharfspitzige Schatten, die am Boden sich zu den tausendfachen
Palmen eines indischen Stoffmusters gestalteten. Hier schattete es
anders reizvoll, als in den Obstgärten Europas, deren
Schattenspende in dieser Nachbarschaft fade erschien: lachendes,
warmes, zu fliegendem Goldstaub gedämpftes Licht, Gewißheit
unaufhörlichen Grünens, anhaltende Duftkräfte, der durchdringende
Duft der Blume, der ernstere Duft der Frucht, der den Gliedern verhaltene Geschmeidigkeit heißer Zonen
verleiht.
»Und jetzt werden wir frühstücken!« rief Albine und klatschte in
die Hände. »Neun Uhr ist es mindestens, ich bin sehr hungrig.«
Sie war aufgestanden. Sergius gestand, daß er auch sehr gerne
etwas zu sich nähme.
»Nein, was bist du dumm!« begann sie wieder, »hast du denn nicht
verstanden, daß ich dich zum Frühstück führte? Hier werden wir wohl
nicht Hungers sterben? Alles wächst für uns.«
Sie schlüpften unter die Bäume, schoben die Zweige zur Seite und
wanden sich bis dorthin, wo die Früchte am dichtesten hingen.
Albine, die voranging mit engangepreßten Kleidern, drehte sich um
und fragte ihren Begleiter mit flötend hoher Stimme:
»Was möchtest du denn gern? Birnen, Aprikosen, Kirschen,
Johannisbeeren? Laß dich warnen, die Birnen sind noch ganz grün;
sie schmecken aber trotzdem ausgezeichnet.«
Sergius entschloß sich zu Kirschen. Albine sagte, man könne
wirklich mit Kirschen anfangen. Als er aber dilettantisch auf den
erstbesten Kirschbaum klettern wollte, ließ sie ihn noch reichlich
zehn Minuten durch unerhörtes Astgewühl weitergehen. Dieser
Kirschbaum trug Kirschen, die gar nichts wert waren; die Kirschen
an jenem Baum waren zu sauer; die Kirschen des dritten waren erst
reif in acht Tagen. Sie kannte alle Bäume.
»Halt, steig da hinauf,« sagte sie endlich und blieb vor einem
Kirschbaum stehen, so fruchtbehangen, daß die Fülle bis zur Erde
wie aufgereihte Korallenhalsbänder hing. Sergius machte es sich zwischen zwei Zweigen bequem
und begann sein Frühstück zu verzehren. Von Albine hörte man nichts
mehr; er glaubte, sie habe sich zu einem anderen Baum einige
Schritte weiter begeben, als er sie plötzlich beim Senken des
Blicks unter sich ruhig auf dem Rücken liegen sah. Sie hatte sich
dorthin geschoben und aß, sogar ohne sich der Hände zu bedienen,
erfaßte mit den Lippen Kirschen, die der Baum ihr bis auf den Mund
niederhängen ließ.
Als sie sich entdeckt sah, schüttelte sie sich vor Lachen und
wand sich auf dem Gras wie ein Fisch auf dem Trockenen, stützte
sich dann mit den Händen auf und umkroch bäuchlings den Kirschbaum,
ohne aufzuhören, nach den allergrößten Kirschen zu haschen.
»Stell dir nur vor, sie kitzeln mich!« rief sie. »Da fällt mir
gerade wieder eine in den Hals. Kühl sind sie, das muß man
sagen! … In den Ohren, Augen, auf der Nase, überall habe ich
Kirschen! Wenn ich wollte, könnte ich eine zerquetschen und mir
einen Schnurrbart malen. Hier unten sind sie viel süßer als da
oben.«
»Was du nicht sagst,« lachte Sergius, »wohl nur, weil du nicht
den Mut hast, heraufzuklettern.«
Sie war stumm vor Entrüstung.
»Ich, nicht den Mut?« stammelte sie.
Und ihren Rock hochraffend, ihn vorne am Gürtel befestigend,
ohne zu bemerken, daß ihre Schenkel zu sehen waren, umschlang sie
hitzig den Baum und schwang sich mit einem einzigen Ruck am Stamm
empor. An den Ästen glitt sie entlang, ohne sich der Hände zu
bedienen. Sie war von eichkatzenhafter Gewandtheit, bog sich um
Astknoten, stieß sich mit den Füßen ab und hielt sich im
Gleichgewicht lediglich mit dem gebogenen
Kreuz. Als sie ganz oben war, am Ende eines schwanken Zweiges, der
unter ihrer Last heftig schwankte, rief sie:
»Bin ich mutig genug, hinaufzuklettern?«
»Willst du wohl schnell herunterkommen,« flehte Sergius
angstergriffen. »Ich bitte dich, du wirst dir wehtun.«
Aber siegesfroh stieg sie noch höher. Am alleräußersten Astende
hielt sie sich, rittlings rückte sie vorwärts, langsam, ganz
langsam über der Leere, mit beiden Händen Blätterbüschel
abreißend.
»Der Ast wird brechen,« sagte Sergius, außer sich.
»Laß ihn doch brechen,« antwortete sie unter schallendem
Gelächter. »Das erspart mir die Mühe,
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