Die Sünde
Einzigen in dem Shuttle. Als Yalcin aus dem Fenster schaute, sah sie, dass am Flugzeug die Türen geschlossen und die beiden Gangways weggefahren wurden.
»Verdammte Scheiße!«, fluchte sie. »Die fliegen ohne uns weg. Was machen wir jetzt?«
»Das darf doch nicht wahr sein!«, brüllte Nawrod. Dann schrie er dem Busfahrer ins Ohr: »Geben Sie endlich Gas und fahren Sie vor den Flieger, dass der Pilot Sie sieht!«
»Das darf ich nicht. Das ist gegen die Vorschriften!«, schrie der Fahrer zurück.
»Wenn Sie nicht augenblicklich tun, was ich sage, mache ich Sie für den Tod einer Geisel verantwortlich. Darauf können Sie Gift nehmen.«
Der Busfahrer schluckte und lenkte sein Fahrzeug vor das Flugzeug. In einem Abstand von etwa 30 Metern hielt er an und öffnete die Türen. »Machen Sie, dass Sie rauskommen«, herrschte er Nawrod an.
»Geht doch«, entgegnete Nawrod und grinste.
Sie hechteten aus dem Shuttle und rannten frontal auf das Flugzeug zu. Zu ihrer Verwunderung sahen sie, dass die vordere Gangway wieder an den Flieger gefahren wurde. Mit pumpenden Lungen rannten sie die Stufen hoch. Auf halber Höhe angekommen, öffnete sich die Tür. Eine Stewardess nahm sie in Empfang. »Sie sind bestimmt Kommissar Nawrod«, nickte sie und zeigte eine Reihe blendend weißer Zähne.
»Und das ist meine Kollegin Nesrin Yalcin«, antwortete Nawrod schwer atmend.
»Willkommen an Bord. Entschuldigen Sie, dass wir fast ohne Sie geflogen wären. Aber wir können uns keine Verzögerungen leisten. Hier in Frankfurt wird nahezu im 30-Sekunden-Takt gestartet. Bei Nichteinhalten der Startzeit muss die betreffende Fluggesellschaft hohe Strafgebühren zahlen.«
»Da haben wir ja noch mal Glück gehabt«, antwortete Yalcin.
»Das können Sie laut sagen«, erwiderte die Stewardess freundlich. »Unser Kapitän hat übrigens geflucht wie schon lange nicht mehr, als er den Shuttle vor sich auftauchen sah.«
»Richten Sie ihm aus, dass wir uns dafür entschuldigen«, entgegnete Nawrod. »Aber es geht um Leben und Tod. Es war für uns die einzige Möglichkeit, noch rechtzeitig nach Berlin zu kommen. Wir müssen dort einen Zeugen befragen, der uns hoffentlich wichtige Informationen zur Rettung einer in Lebensgefahr befindlichen Geisel geben kann.«
Das antrainierte Lächeln der Stewardess erstarrte. »Bitte folgen Sie mir«, sagte sie sichtlich betroffen und führte die beiden zu ihren Plätzen. »Wir starten in wenigen Sekunden. Schnallen Sie sich bitte gleich an.« Sie entfernte sich in Richtung Cockpit. Vor der Tür zur Flugzeugkanzel nahm sie den Hörer des Bordtelefons aus der Halterung. Offensichtlich sprach sie kurz mit dem Kapitän, denn noch während sie redete, erhöhte sich die Drehzahl der Triebwerke. Der Flieger setzte sich langsam Richtung Startbahn in Bewegung.
Nawrod brach der Schweiß aus allen Poren. Es war nicht das erste Mal, dass er flog, aber das erste Mal nach dem verhängnisvollen Rauschgifteinsatz, den er geleitet hatte und bei dem sein bester Freund ums Leben gekommen war. Doch was hatte diese panische Angst vor dem Fliegen oder vor dem Benutzen eines Fahrstuhls mit dem Trauma der tödlichen Schüsse auf Charly zu tun? Wurde die Klaustrophobie, die sich damals bei ihm eingenistet hatte, dadurch ausgelöst, dass Charly vor seinen Augen kaltblütig erschossen worden war? Oder waren es die Schuldgefühle, die ihn heute noch Tag und Nacht quälten? Er hätte den Mord an Charly verhindern können. Während sich seine Finger in die Armlehnen krallten, beschloss Nawrod, sich nach Abschluss des Falles intensiv um dieses Problem zu kümmern.
38
Wie immer war er äußerst vorsichtig. Die Autos, die hinter ihm waren, bogen entweder ab oder überholten ihn. Er war sich absolut sicher, dass ihm niemand gefolgt war. Nachdem er den Blinker gesetzt hatte, drückte er auf die Taste der Fernsteuerung. Bis er das große schmiedeeiserne Tor erreicht hatte, war es schon so weit offen, dass er durchfahren konnte. Den Wagen stellte er in der Garage ab. Von dort aus schloss er mit Hilfe zweier elektrischer Schalter sowohl das Eingangs- als auch das Garagentor. Jetzt konnte ihn niemand mehr sehen. Er ging schleunigst ins Büro im Untergeschoss und sah auf den Monitor. Radecke saß oder lag sonst immer auf der Pritsche. Manchmal ging er auch in der kleinen Zelle wie ein gefangenes Tier hin und her. Doch jetzt lag er in seltsam gekrümmter Haltung regungslos auf dem Boden. Seine Arme hatte er vor dem Bauch
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