Die Sünde
seine Schritte. »Wenn wir in keinen Stau geraten, können wir in 20 Minuten dort sein. Ich denke, Herr Weiß ist zu Hause.«
»Was heißt, Sie denken?«, entgegnete Nawrod gereizt. »Hat man Ihnen nicht gesagt, dass das Opfer in Lebensgefahr schwebt und es deshalb auf jede Sekunde ankommt?«
Schuster sah Nawrod entgeistert an und legte noch mal einen Zahn zu, sodass Yalcin kaum noch mithalten konnte, ohne rennen zu müssen. »Nein, das hat man nicht«, antwortete Schuster beleidigt. »Aber bitte, wie Sie wünschen. Mit Blaulicht und Martinshorn sind wir in 15 Minuten dort, wenn Ihnen das nicht zu spät ist.« Schuster verdrehte die Augen. »Hätte ich das gewusst, wäre ich mit dem Hubschrauber gekommen!«, brummte er.
»15 Minuten wäre super!«, stieß Yalcin heftig atmend hervor und nahm damit etwas Spannung aus der aufgeladenen Unterhaltung.
Schuster hielt Wort. Als er vor dem Anwesen in der Lützowstraße anhielt, sah Nawrod, der auf dem Beifahrersitz saß, nach hinten und nickte Yalcin zufrieden zu.
»Alle Achtung! Tolle Stadt-Rallye haben Sie da hingelegt, Herr Kollege«, bemerkte Yalcin und klopfte Schuster auf die Schulter.
»Danke, war mir ein Vergnügen, Frau Kollegin«, antwortete er. »Da man hier keinen Parkplatz bekommt, warte ich am besten in zweiter Reihe vor dem Haus, bis Sie zurückkommen. Radeckes Wohnung befindet sich auf der dritten Etage.«
Yalcin und Nawrod stiegen aus, überquerten den Gehweg und gingen auf den etwas zurückgesetzten Eingang zu. Das Haus machte einen sehr gepflegten Eindruck. Auf der großen, aus hochglanzpoliertem Messing bestehenden Klingelleiste waren kleine Schildchen aufgeschraubt, auf denen die Namen der Hausbewohner kunstvoll eingraviert waren. Nawrod drückte den Knopf neben dem Doppelnamen Radecke-Weiß. Sekunden später meldete sich an der Sprechanlage eine Stimme: »Ja, bitte?«
»Kriminalpolizei!« Bevor sich Nawrod vorstellen konnte, hörte er schon das Summen des elektrischen Türöffners.
Oben angekommen, erwartete sie Daniel Weiß vor der Tür und bat sie in die Wohnung. Noch in der Diele fragte er: »Womit kann ich Ihnen dienen? Gibt es etwas Neues von Gottwald?«
Nawrod nickte. »Ich habe eben von unserem Berliner Kollegen erfahren, dass man Sie über unser Kommen noch nicht unterrichtet hat.«
Weiß sah Nawrod verwundert und gleichzeitig entsetzt an. »Nein, wieso auch? Sagen Sie schon, ist Gottwald …, du lieber Himmel … ist er tot?«
Yalcin und Nawrod schüttelten gleichzeitig den Kopf. »Nein, wir glauben, dass er noch lebt«, antwortete Yalcin mit ruhiger Stimme.
»Ist das auch wirklich wahr? Und warum ist Kommissar Schuster dann nicht gekommen? Bisher hatte ich nur mit ihm zu tun«, erwiderte Weiß ungläubig.
»Wir sind von der Kripo Heidelberg und haben die Bearbeitung des Vermisstenfalles Radecke übernommen, weil … weil …« Nawrod suchte nach geeigneten Worten.
»Weil wir vermuten, dass Ihr Lebenspartner in der Gewalt von Tätern ist, die Herrn Radecke etwas Schlimmes antun möchten«, antwortete Yalcin.
»Welche Täter?«, fragte Weiß. »Und wieso will jemand Gottwald etwas Schlimmes antun? Der hat doch noch keiner Fliege etwas getan!«
»Um das herauszufinden, möchten wir gerne mit Ihnen ausführlich über Herrn Radecke reden«, antwortete Nawrod. »Fühlen Sie sich dazu in der Lage?«
»Selbstverständlich! Kommen Sie, wir gehen ins Wohnzimmer.« Weiß ging voraus. »Bitte nehmen Sie Platz.«
Während sich Yalcin in den Sessel setzte, ließ sich Nawrod auf dem Zweier-Sofa nieder. »Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten?«
»Gerne, vielen Dank«, antwortete Yalcin und Nawrod nickte zustimmend.
Weiß verschwand in der Küche. Man hörte, wie er die Kaffeemaschine einschaltete und mit Geschirr hantierte.
»Alles vom Feinsten«, flüsterte Yalcin, während sie die Einrichtung begutachtete. »Sehr geschmackvoll und im neuesten Stil.«
»Die haben Kohle, das steht schon mal fest«, flüsterte Nawrod zurück. »Meinst du, das könnte das Motiv sein?«
Yalcin hob die Schultern. »Möglich, aber aus meiner Sicht nicht sehr wahrscheinlich, denn dann würde der Täter nicht die Nummer mit den verschickten Körperteilen abziehen.«
Nawrod überlegte kurz, bevor er sagte: »Du hast recht. Bei dem ersten Opfer hätte sich dann auch sicher schon jemand gemeldet, der den Mann vermisst und für den er vielleicht ohne Erfolg bezahlen musste.«
»Ob das erste Opfer auch schwul war?«
Nawrod runzelte die Stirn.
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