Die Sünde
»Gute Frage.«
»Die wir vielleicht nie beantworten können«, ergänzte Yalcin.
Weiß erschien mit einem Tablett, auf dem drei Tassen duftender Kaffee standen. Die Tassen servierte er mit spitzen Fingern so gekonnt, dass Nawrod sofort wusste, Daniel Weiß hatte in der Beziehung mit Gottwald Radecke die Rolle der Frau übernommen.
»Bitte, die Herrschaften!« Mit diesen Worten stellte er eine Schüssel feinster Schokoladenkekse auf den Tisch. Danach nahm er auf der großen Couch Platz. Er schlug die Beine übereinander, was Nawrods Vermutung bestärkte, dass Weiß den weiblichen Part verkörperte.
Nawrod räusperte sich kurz, bevor er zu sprechen anfing. »Herr Weiß, wir wollen Sie heute förmlich vernehmen. Sind Sie damit einverstanden, dass wir Ihre Befragung auf Band aufnehmen?« Nawrod zog sein kleines Diktiergerät aus der Jackentasche und legte es demonstrativ auf den Tisch.
»Natürlich«, antwortete Weiß leicht verwundert. »Ich habe nichts zu verbergen und werde Ihnen alle Fragen wahrheitsgemäß beantworten.« Kaum hatte er den Satz ausgesprochen, fiel ihm siedend heiß ein, dass er Kommissar Schuster nicht immer die ganze Wahrheit gesagt hatte. Sollte er jetzt damit herausrücken? Er wollte erst einmal abwarten.
Nawrod drückte auf den Aufnahmeknopf seines Diktiergerätes. Es hatte eine Speicherkapazität von über drei Stunden und war nicht größer als ein Handy. Die in den letzten Jahren stetig verbesserte Tonqualität dieser Geräte erstaunte ihn immer wieder.
»Herr Weiß«, begann Nawrod und atmete noch einmal durch. »Da Sie der Lebenspartner von Herrn Radecke sind, kann es aus kriminalistischer Erfahrung nicht ganz ausgeschlossen werden, dass Sie mit seinem Verschwinden zu tun haben.«
»Wie bitte?«, protestierte Weiß entsetzt. »Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ich …«
»Reine Formsache, Herr Weiß«, beschwichtigte Yalcin. »Wir sind gesetzlich verpflichtet, Sie vor einer solchen Vernehmung zu belehren, dass Sie ein Aussageverweigerungsrecht haben, wenn Sie der Meinung sind, dass Sie sich durch Ihre Aussage selbst belasten könnten.«
Weiß verstand die Welt nicht mehr und schüttelte den Kopf. »Was zum Teufel soll das?«
»Wir ermitteln in einem Mordfall«, sagte Nawrod sachlich.
»Und gerade in einem Mordfall müssen wir alle Eventualitäten berücksichtigen«, ergänzte Yalcin. »Ich bin sicher, Sie werden dafür Verständnis haben, wenn …«
»Ein Mordfall?«, stieß Weiß nun völlig außer sich hervor. Sein Gesicht war plötzlich kreidebleich. »Sie sagten doch, dass Gottwald noch lebt?«
»Beruhigen Sie sich bitte!«, antwortete Yalcin mitfühlend. »Ihr Lebenspartner ist nicht tot. Aber die Täter haben vor Herrn Radecke eine andere Person entführt, die sie am Ende töteten.«
»Mein Gott! Ist … ist das die Geschichte, die gestern in der Zeitung stand und in allen Nachrichten gesendet wurde?« Weiß riss die Augen auf und schnappte nach Luft. »Der Finger? Ich habe da etwas von einem abgetrennten Finger gehört! Ist es Gottwalds Finger?«
Nawrod nickte. »Wir haben Grund zur Annahme, dass auch Ihr Lebenspartner ermordet wird, wenn wir die Täter nicht stoppen können«, sagte Nawrod ernst. »Doch Sie dürfen mir glauben, dass wir alles tun werden, um einen weiteren Mord zu verhindern. Vielleicht können Sie uns dabei entscheidend helfen.«
Weiß stand auf und begab sich wortlos in das gegenüberliegende Büro. Als er mit immer noch bleichem Gesicht zurückkam, hatte er einen Computerausdruck in der Hand, den er vor Nawrod auf den Tisch legte. »Das ist der Mörder!«, sagte er heiser.
»Wo haben Sie das her?«, fragte Nawrod verwundert, während er das Bild betrachtete.
»Unsere Bank hat es mir vor einer Stunde per E-Mail übersandt.« Weiß deutete auf den Ausdruck. »Dieser Mann hat am Heidelberger Hauptbahnhof am dortigen Geldautomaten mit Gottwalds EC -Karte 1.000 Euro abgehoben.«
Von Neugier gepackt, sprang Yalcin auf. Den Blick auf das Bild geheftet, stöhnte sie enttäuscht: »Oh verdammt, das Schwein hat sich bis zur Unkenntlichkeit vermummt. Das kann man vergessen. Mit diesem Bild können wir so gut wie nichts anfangen.« Sie ließ sich wieder in den Sessel fallen.
»Zumindest wissen wir jetzt, dass unsere Täter keine Phantome sind und dass sie Fehler machen. Die Geldabhebung bestätigt auch die Vermutung, dass ihr Ankerpunkt tatsächlich Heidelberg ist.« Nawrod sah noch einmal die Aufnahme an. »Und wenn ich mir die Figur anschaue,
Weitere Kostenlose Bücher