Die Sünde
die Ohren und hustete zweimal in die Hand, bevor sie zu sprechen begann:
»Kollege Nawrod und ich haben die wenigen Fakten und Vermutungen, die wir haben, zusammengetragen. Ich darf rekapitulieren: Vor genau 16 Tagen traf bei der Polizeidirektion Heidelberg ein an Kriminalhauptkommissar Nawrod gerichtetes Päckchen ein, in dem sich der amputierte rechte Zeigefinger einer männlichen Person befand. Dem Finger war eine Botschaft in lateinischer Sprache beigefügt. Sie lautete: Zeige mir den Weg .
Im Abstand von vier Tagen trafen auf normalem Postweg dann weitere drei Päckchen ein. Adressat war in allen Fällen der Kollege Nawrod. Für die, die es noch nicht wissen sollten: Kollege Nawrod verrichtet hier erst seit knapp vier Wochen seinen Dienst. Zuvor war er in Stuttgart, wo er ebenfalls beim Dezernat 1 arbeitete. Es stellt sich natürlich die Frage, warum der Täter die Päckchen gerade an Jürgen Nawrod schickte. Leider müssen wir zugeben, dass wir keine Ahnung haben.« Unter den Anwesenden kam Gemurmel auf. Yalcin schaute in die Runde. Sie sah, wie Lehmann seine Augenbrauen hob und Wegner fragend anschaute.
Unbeirrt fuhr sie fort: »In dem zweiten Päckchen befand sich das rechte Ohr des Opfers und die Botschaft: Höre mein Flehen . Danach traf ein rechtes Auge ein. Dieses Mal hieß die Botschaft Siehe die Wahrheit und das Licht . Die Rechtsmedizinerin hat festgestellt, dass die Körperteile immer demselben noch lebenden Menschen entnommen beziehungsweise amputiert wurden. In keinem der Päckchen konnten täterrelevante Spuren gefunden werden. Heute schickte der Täter schließlich ein menschliches Herz. Es deutet alles darauf hin, dass es vom selben Opfer stammt.
Wie größtenteils bekannt sein dürfte, haben wir gestern und vorgestern alle Poststellen in Heidelberg observieren lassen. Das letzte Paket wurde, so konnte zweifelsfrei rekonstruiert werden, von einer älteren, stark gehbehinderten Frau unter den Augen zweier junger Kollegen der Bereitschaftspolizei bei der Poststelle in der Kleingemünder Straße 35 abgegeben. Da es mehr als doppelt so groß war als die anderen Päckchen und die alte Frau in keinster Weise verdächtig erschien, wurde sie nicht kontrolliert, was sich im Nachhinein als großer Fehler herausstellte.«
Wieder machte sich lautes Gemurmel breit. Yalcin erhob ihre Stimme: »Aber hinterher ist man immer schlauer. Mir wäre es wahrscheinlich genauso ergangen. Ich hätte in dieser Situation auch keinen Verdacht geschöpft, und wer, liebe Kolleginnen und Kollegen, kann von sich sagen, dass er die alte Frau ganz bestimmt kontrolliert hätte?«
Das Gemurmel verstummte. Einer der neu hinzugekommenen Kriminalbeamten meldete sich.
»Gibt es hinsichtlich der anderen Päckchen noch Hinweise auf Personen? Wurden die betreffenden Postbediensteten befragt?«
»Ja, wir haben alle an ihrer Arbeitsstelle aufgesucht und gründlich befragt. Zu dem Paket, in dem sich das Auge befand, meinte ein junger Postmann, es sei von einer bildhübschen Frau abgegeben worden, die er jederzeit wiedererkennen würde. Diese Frau würde er so schnell nicht vergessen.«
»Gibt es tatsächlich keinerlei kriminaltechnische Spuren?«, fragte ein anderer.
»Außer der DNA und den Körperteilen des Opfers haben wir lediglich ein paar überlagerte Fingerspurenfragmente auf der Außenseite der Pakete sichern können«, meldete sich Walter Beck. »Aber im Innern gab es nichts zu holen. Der Täter hat peinlich darauf geachtet, keine Spuren zu hinterlassen.«
»Welche Maßnahmen sind geplant, um dem Spuk so schnell wie möglich ein Ende zu bereiten?«, fragte Lehmann.
Yalcin sah Nawrod fragend an. Hilflosigkeit war in ihren Augen zu sehen. Jeder der Anwesenden merkte, dass die junge Kollegin mit dieser Frage heillos überfordert war.
»Verzeihung, Herr Lehmann, darf ich diese Frage beantworten?« Nawrod erhob sich von seinem Stuhl.
»Ich bitte darum, Herr Nawrod.«
»Wir lassen noch heute Phantombilder der beiden Paketaufgeberinnen erstellen, mit deren Hilfe wir Befragungen in den Poststellen durchführen können. Vielleicht wurden die Frauen von anderen Angestellten schon früher einmal gesehen. Wenn wir Glück haben, sind sie vielleicht sogar jemandem namentlich bekannt. Bringt das keinen Erfolg, können wir mit den Bildern über die Medien nach den Frauen suchen. Es liegt nahe, dass die beiden Frauen direkt mit dem Täter in Verbindung stehen oder ihn zumindest kennen. Vielleicht hat er seine Frau und seine Mutter
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