Die Sünde
Aschenbecher lugte zur Hälfte unter der Akte hervor und trotz des geöffneten Fensters roch es in dem Büro nach kaltem Tabakrauch.
Nawrod hatte im Laufe seiner Dienstzeit mit vielen Gerichtsmedizinern zu tun gehabt und meistens festgestellt, dass die Typen auf irgendeine Weise von der Norm abwichen. Mal waren sie auffallend klein, mal spindeldürr, ein anderes Mal dick wie sein Fleischer um die Ecke oder hässlich wie die Nacht. Manchmal war es auch nur ihre äußerst sonderbare Einstellung zum Leben und insbesondere zum Tod oder auch zur Politik. Und jedes Mal fragte er sich, ob sie deshalb diesen außergewöhnlichen Beruf gewählt hatten. Diese Frau Dr. Westhof, dachte er, würde in einer Basketball- oder gar Rugbymannschaft ihren Gegnerinnen nicht allein durch ihre Größe, sondern vor allem durch ihr grobschlächtiges Aussehen gehörigen Respekt einjagen. Doch das war es nicht, was Nawrod erstaunte. Erst als die Rechtsmedizinerin zu sprechen begann, war er für einen Moment völlig perplex. Die Frau hatte eine Stimme, so sanft wie eine Fee, die ganz und gar nicht zu ihrem sonstigen Erscheinungsbild passte.
»Sie sind also der Adressat dieses Wahnsinnigen«, sagte sie.
»Ja«, antwortete Nawrod mit einem Schulterzucken. »Und bevor Sie fragen, kann ich Ihnen vorweg die Antwort geben, dass ich keine Ahnung habe, warum der Mörder immer an mich die Pakete schickt. Natürlich wird er seine Gründe haben, aber diesbezüglich tappen wir noch völlig im Dunkeln.«
»Womit kann ich Ihnen dienen?«, fragte Barbara Westhof. Nawrod hätte am liebsten die Augen geschlossen und gegenüber der »Sprachfee« seine Wünsche geäußert, während er sich vor seinem inneren Auge ein engelgleiches Wesen vorstellte.
»Bevor ich Sie um etwas bitte, würde ich gerne wissen, wie Ihre Einstellung zu dieser Art von Tätern ist. Was meinen Sie, muss man mit solchen Menschen Mitleid haben, weil sie offenbar geistig gestört sind und dringend medizinisch betreut werden müsste? Oder sollten sie wie alle anderen Mörder behandelt werden, ohne Mitleid und ohne irgendwelche Rücksicht auf ihre psychischen Probleme?«
»Sie erwarten darauf allen Ernstes eine Antwort?« Barbara Westhof sah Nawrod erstaunt an. Eine solche Frage hatte ihr bis dato noch kein Ermittler gestellt. In dem herben Gesicht der Rechtsmedizinerin sah Nawrod ein kurzes Lächeln.
»Hätte ich Sie sonst gefragt?«, antwortete er trocken.
Frau Dr. Westhof überlegte, bevor sie antwortete: »Ich bin der Meinung, dass alles Menschenmögliche getan werden muss, um diese Bestie schnell hinter Schloss und Riegel zu bringen. Die Verstümmelungen und das Töten von Menschen gehen sonst mit hoher Wahrscheinlichkeit weiter. Sobald der Täter wieder eine Person in seine Gewalt gebracht hat, wird es nicht lange dauern, bis er Ihnen das nächste Paket schickt.«
»Wie kannst du dir da so sicher sein?«, fragte Sabine Bauer.
»Wenn du mich richtig informiert hast, übermittelte der Täter zwar einige Botschaften, die aber bis jetzt noch keine Rückschlüsse darauf zulassen, was er mit seinen Taten wirklich bezwecken will. Meiner Meinung nach hat er einen genauen Plan. Nur welchen, ist hier die große Frage.«
»So weit sind wir auch schon gekommen«, sagte Nawrod freundlich. »Das ist jedoch nicht genug, um auch nur ansatzweise auf die Spur des Täters zu kommen. Deshalb würde ich Sie bitten, entgegen den Vorschriften über Ihren Schatten zu springen und mit der DNA des Opfers eine bestimmte Untersuchung durchzuführen.« Nawrod räusperte sich.
Frau Dr. Westhof lächelte breit und Nawrod sah, dass ihr rechts oben ein Backenzahn fehlte. »Diese bestimmte Untersuchung, wie Sie es nennen, habe ich«, Westhof führte eine Hand vor den Mund und hustete, »bereits vorgenommen, nachdem mir Sabine das Ohr des Opfers brachte.«
Nawrod runzelte die Stirn. »Sie wissen aber, dass es einen Erlass des Justizministeriums gibt, wonach diese Untersuchung verboten ist, falls wir von der gleichen Untersuchung sprechen?«
»Das ist mir sehr wohl bekannt, und wir sprechen ganz sicher von der gleichen Untersuchung, lieber Herr Nawrod. Wie ich schon sagte, sollten wir alles Menschenmögliche tun, um den Täter dingfest zu machen.«
Nawrod schenkte der Rechtsmedizinerin ein freundliches Lächeln. »Dann verraten Sie uns endlich, wie das Ergebnis der Untersuchung ausfiel«, bat er und behielt sein Lächeln bei.
Frau Dr. Westhof sah Sabine Bauer fragend an. Die Kriminaltechnikerin
Weitere Kostenlose Bücher