Die Sünde
die einzelnen Aktionen in Angriff nehmen. Wir brauchen jede Menge Leute, um die Maßnahmen effektiv und vor allem zeitgleich über die Bühne zu ziehen. Sobald wir die richterlichen Beschlüsse haben, werden wir entscheiden, wann wir zuschlagen.« Wegner holte tief Luft. Die Anspannung, aber auch der feste Entschluss, als Leiter der Soko die Dinge in die Hand zu nehmen, waren ihm ins Gesicht geschrieben.
Nawrod war mit Wegners Reaktion zufrieden. Er hätte nicht anders entschieden. Doch er war auch ein Typ, der am liebsten sofort zugeschlagen hätte. Immerhin bestand ja die Gefahr, dass in der Zwischenzeit eine weitere Person zu Schaden kommen könnte.
Ungeduldig fragte er: »Wann, denken Sie, haben wir die richterlichen Beschlüsse?«
»Nicht vor morgen. Mit der Observation beginnen wir wegen Gefahr im Verzug sofort. Ich werde die Kollegen des Mobilen Einsatzkommandos bitten, diesen Part zu übernehmen. Das sind Profis in solchen Dingen. Ich schätze, dass uns unter den gegebenen Umständen Staatsanwalt Brügge hierzu seinen Segen gibt. Wir dürfen uns nicht den geringsten Fehler erlauben. Die Presse auf der ganzen Welt zerreißt uns, wenn da etwas schiefläuft.«
Nawrod sah dicke Schweißperlen auf Wegners Stirn. Damals, als er selbst noch Leiter des Rauschgiftdezernates in Stuttgart gewesen war, hatte er Entscheidungen ähnlicher Tragweite treffen müssen. Oft ging es um die Sicherheit respektive um das Leben der eingesetzten Undercover-Agenten. Und schlagartig kamen die Erinnerungen an jenen Einsatz hoch, der den schrecklichen Tod seines besten Freundes Charly zur Folge hatte. Die peitschenden Schüsse jener Nacht hallten in den Nervenbahnen seines Gehirns wider und lähmten jede weitere Wahrnehmung. Wie paralysiert stand er vor Wegners Schreibtisch.
»Nawrod … Herr Nawrod, Sie sind ja ganz blass. Ist Ihnen nicht gut? Nawrod?«
Wie aus weiter Ferne drang Wegners Stimme an Nawrods Ohr. Er nahm nicht wahr, wie Wegner sich trotz seiner 110 Kilogramm blitzschnell von seinem Stuhl erhob, um den Schreibtisch hechtete und ihm von hinten unter die Arme griff.
Wegner setzte Nawrod auf einen Stuhl und schlug ihm mit der flachen Hand ins Gesicht. »Nawrod, was ist mit Ihnen? Soll ich einen Arzt rufen?«
Nawrod schüttelte den Kopf. »Ich bin okay. Tut mir leid, habe heute Morgen noch nichts gegessen«, log er. »Unterzucker, verstehen Sie?«
»Kenne ich«, antwortete Wegner und tätschelte Nawrod väterlich die Wange, als ob er die Ohrfeige vergessen machen wollte. »Warten Sie, ich habe da was.« Er ging um seinen Schreibtisch herum, zog eine Schublade auf und entnahm daraus einen kleinen Teller, auf dem sich ein leckeres Croissant befand.
»Hier, bedienen Sie sich.«
»Nein, um Himmels Willen! Ich möchte Ihnen doch nicht Ihr Frühstück wegessen«, kam es schwach über Nawrods Lippen.
»Reden Sie kein dummes Zeug! Schieben Sie das Croissant schon hinter die Kiemen und dann … Moment mal!« Wegner ging zur Tür, öffnete sie und rief: »Frau Lelle, bitte bringen Sie schnellstens zwei Kaffee!«
Nawrod war die Situation äußerst peinlich. Damit hatte er überhaupt nicht gerechnet. Nach so langer Zeit hatte ihn die Vergangenheit wieder eingeholt, obwohl er in all den Monaten ständig bemüht war, vor ihr wegzurennen, sie irgendwie abzuschütteln. Zuerst, indem er sich gegen alles und jeden völlig abschottete, sogar gegen seine eigene Frau und Tochter. Dann mit Hilfe von Alkohol und Tabletten. Und kurz vor dem endgültigen Zusammenbruch hatte er sich geradezu exzessiv in Arbeit geflüchtet. Aber egal, was er tat, wie schnell er vor der Vergangenheit davonrannte, sie holte ihn wieder ein und rief lähmendes Entsetzen in ihm hervor.
Er fuhr sich mit der flachen Hand über den Kopf. »Kommt nicht wieder vor«, brummte er und biss in das Süßstück.
Schwungvoll wie eine Oberkellnerin balancierte Frau Lelle in der rechten Hand ein Tablett, auf dem sich zwei Tassen Kaffee, Zucker, Milch sowie ein paar Kekse befanden. Mit der anderen räumte sie einen Platz auf Wegners Schreibtisch frei, auf dem sie das Tablett abstellen konnte.
»Bitte sehr, die Herren. Ich habe ihn etwas stärker gemacht. Ist ja noch früh am Tage«, sagte sie freundlich. »Haben Sie sonst noch einen Wunsch?«
»Vielen Dank, Frau Lelle. Sie sind wirklich sehr nett«, antwortete Nawrod und schenkte ihr ein dankbares Lächeln, während er eine der beiden Tassen vom Tablett nahm. Wegner nickte nur, als sich Frau Lelle wieder diskret
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