Die Suenden der Vergangenheit
kleinen Phiolen zum Wackeln brachte. Eine kippte herunter und zerschellte mit einem hellen, platzenden Geräusch auf dem Boden.
Mathilda!
Mit ihr hatte Gloria nicht gerechnet. Wie war sie überhaupt hier rein gekommen? Sie hatte die Tür nicht gehört. War sie schon vor ihr hier angekommen? Warum hatte sie es dann nicht bemerkt. Zwischen Küche, Wohnzimmer und Flur gab es keine Trennwände. Alles war groß und offen, nur durch Möbel begrenzt. Lediglich Bade- und Schlafzimmer waren einzelne Räume. Hatte sich ihre Tante dort versteckt und auf sie gewartet?
Gloria fragte sich, aus welchem Grund. Trotzdem musste sie nicht danach fragen, denn eigentlich war Mathildas Auftauchen nur eine Frage der Zeit gewesen. Als Tante machte sie sich schließlich Sorgen und Gloria hatte all ihre Anrufe am Wochenende ignoriert. Und sie war eine Immaculate.
Ein ängstlicher Laut kam über Glorias Lippen, als Mathilda ihren Blick auf die Scherben senkte und dann ihre Nichte fragend musterte.
„Wo bist du gewesen, Gloria?“ Ihre Stimme strahlte eine Kälte aus, die mit dem Wort Enttäuschung nicht einmal annähernd zu beschreiben gewesen wäre.
Sie machte einen Schritt auf Gloria zu, der auffiel, dass ihre Tante zum ersten Mal in ihrem Leben Weiß trug. Einen sommerlich leichten Hosenanzug, der ihren sonnengebräunten Teint und den Kastanienton rotbraunen Haare, die ihr in lockeren Wellen auf die Schultern fielen, hervorhob. Um die Taille herum trug sie einen silbernen, geflochtenen Gürtel, dessen Enden locker verknotet bis zu ihren Knien reichte und mit gefährlich aussehenden, spitzen Zierenden auslief.
Quelle des Wissens…
Morrigans Stimme hallte in Glorias Kopf wieder. Nicos Warnungen und all die Erkenntnisse über ihre Tante erschienen Gloria mit einem Mal nicht mehr abwegig. Mathilda machte ihr mit diesem Auftritt Angst. War der Alarm ausgelöst worden? Gloria hoffte es.
„Wo. Bist. Du. Gewesen?“
Die Phiole, die heruntergefallen war, setzte sich plötzlich samt Inhalt wieder wie von Zauberhand zusammen. Gloria schrie und das kleine Fläschchen kreiselte ohne Ziel in der Luft, um dann erneut herunter zu fallen und zum zweiten Mal zu zerbrechen. Mathilda wusste es. Mathilda wusste es ganz genau.
Trotzdem wagte es Gloria, ihr offen ins Gesicht zu lügen. „Ich... ich... war bei einer Freundin.“
Was, wenn man es genau nahm, eigentlich keine Lüge war. Mathilda hatte viel mehr und viel länger nicht die Wahrheit gesagt.
„Dann ist es ja gut. Ich habe mir Sorgen um dich gemacht.“
Ihre Tante schien zufrieden. Gloria schloss erleichtert die Augen. Dann aber spürte sie plötzlich einen Luftzug und dann den brennenden Schmerz auf ihrer Wange. Gloria schrie ein weiteres Mal und als sie die Augen aufriss, stand Mathilda direkt vor ihr. Mit erhobener Hand. Bereit ein weiteres Mal zuzuschlagen.
„Lüg mich nicht an!“, herrschte Mathilda sie an, der sehr wohl aufgefallen war, woher die Phiolen, die in Glorias Rücken standen, herkamen und dass ihre Nichte nicht erschreckt genug aufgeschrien hatte, als sie das kleine Fläschchen mittels ihren verbliebenen Fähigkeiten zusammengesetzt hatte.
Es war ihr ja klar gewesen, dass Gloria früher oder später auf Ihresgleichen stoßen würde, allerdings hatte sie nicht damit gerechnet, dass sie diese Begegnung überlebte oder gar Freunde fand.
Peter war sehr gesprächig gewesen. Mathilda hatte ihn ausgequetscht und anschließend halb tot getrunken. Er wollte ihr nicht sagen, was mit ihrer Nichte passiert war und warum man sie neuerdings nicht mehr auf ihrem Handy erreichen konnte, aber sie hatte es doch noch aus ihm raus bekommen. Jedes noch so kleine schmutzige Detail. Gloria hatte sie verraten. Gloria hatte sich gegen sie gestellt. Gloria hatte bei diesen Ratten Hilfe gesucht.
„Bist du jetzt glücklich? War es das, was du wolltest?“
Mathildas Augen glühten und Gloria zitterten die Knie vor Angst.
„Ich weiß nicht, was du meinst!“ Glorias Stimme war nur noch ein hohes Kieksen und Mathilda sog scharf die Luft ein, als sie den Duft wahrnahm, der von ihrer Nichte ausging und der seit Jahren mal stark, mal schwach in ihrer Nase biss und sie wieder und wieder daran erinnerte, was Gloria war und sich hoffentlich bald eine angemessene Lösung für sie fand.
„Ich habe dich immer geliebt, Gloria!“, fuhr ihre Tante unbeirrt fort und Gloria, die nun am ganzen Leib zitterte, konnte nur panisch zustimmend nicken, obwohl sie dem Inhalt der an sie gerichteten Worte nicht
Weitere Kostenlose Bücher