Die Suendenburg
ich mich nicht entziehen. Einen Tag und eine Nacht lang war es mir aufgegeben, auf einem Schemel auf Agapets frischem Grab zu sitzen, ich allein mit ihm, er drei Ellen unter mir verwesend. Zum Schutz vor der Spätsommersonne hatte man einen Baldachin für mich aufgespannt, ein riesiges Leichentuch über meinem Haupt, das mich zu ersticken suchte, während Agapets Nähe mich von unten erstickte. Dazu raubten die schreienden Zikaden mir fast den Verstand. Ich hielt mir die Ohren zu und wäre am liebsten aufgesprungen und fortgerannt. Man sollte nicht glauben, wie erdrückend die Luft und die Zeit auf einer Burg hoch über dem Rhein sein können; man sollte meinen, der Thron über einem weiten Land voller Sonne und Wein garantiere Reinheit, Frieden und Frische. Doch die Luft stand still, so wie die Zeit, siebenundzwanzig Jahre lang und ein letztes Mal.
Dort saß ich also Stunde um Stunde und wartete auf das Ende meines bisherigen und den Beginn eines anderen Lebens. Ein fremdes Terrain. Ich hatte noch nie viel Zeit auf diesem Friedhof zu Füßen der Burg verbracht. Auf meinen Spaziergängen hatte ich ihn stets gemieden, und musste ich, was selten vorkam, an einer Bestattung teilnehmen, starrte ich fast immer nur auf das Grab und entfernte mich so schnell wie möglich. Zu meiner Überraschung bemerkte ich jedoch, dass der von Hagebuttensträuchern umgebene Friedhof der schönste Fleck des Areals um die Burg ist. Der Blick geht – anders als auf der hügeligen, bewaldeten Westseite – weit über das rheinische Land bis zum östlichen Horizont. Es gibt um den Friedhof herum weder blühende Wiesen noch Weinreben wie auf der flach abfallenden Südseite, sondern bloß wuchernde Gräser, aber dafür stört nicht der Wirtschaftsweg, auf dem von morgens bis abends Wagen rattern und Pferdehufe klappern. Der Hang ist nicht so steil und spektakulär wie auf der Nord- und Teilen der Westseite, wo die Schroffen in die Tiefe stürzen, aber zum Nachmittag hin verwandelt sich der Fluss im Tal zu einem goldglühenden Band, welches das Licht hangaufwärts gegen die Ostmauer wirft und der Burg und dem Friedhof eine schillernde, beinahe traumhafte Erscheinung gibt, deren Teil ich in diesem Augenblick war. Wie oft habe ich den Rhein von meinem Fenster oder den Burgmauern aus betrachtet, doch nie hatte er diese Wirkung auf mich wie in jenen Stunden, über die ich schreiben muss, um sie festzuhalten. Früher habe ich nie geschrieben. Erst an Agapets Tod hat sich der Funke entzündet.
Zum Abend hin hörte ich die Gesänge meiner drei Zofen Frida, Franka und Ferhild, die ich mir mit Elicia teile. Sie singen seit jeher gern, aber seit ihre Verlobten im Krieg gefallen sind, sind ihre Lieder oft traurig und ahnungsvoll, sodass manche in der Burg glauben, sie hätten seherische Fähigkeiten. Verse hallten heran: Des Hauses Träumerin, aufgeschreckt im Schlaf, das Grauen erblickt, mitternächtgen Angstschrei ausgestoßen, zu uns ins Gemach taumelwild sich hineingestürzt. Sonnenlos umhüllt tiefes Dunkel das Haus, in dem drinnen ward der Herr erschlagen.
Als sie verstummten, wurden die Zikaden mir langsam lieb, dann wurde es bald still, und durch die Stille kam ich zur Ruhe und zur Traurigkeit. Meine Kindheit dämmerte vor mir auf, die an meinem sechzehnten Geburtstag, dem Tag meiner Heirat mit Agapet, zu Ende gegangen war: sieben laute Geschwister; lange Ausritte über das Plateau; die Glocken von Langres; der verdrückte Kuss eines gleichaltrigen Verehrers; ein unermüdlich Recht sprechender Vater; eine Mutter, die ein Kind nach dem anderen verheiratete; ein Krieg zwischen den Königreichen Ostfranken und Westfranken, der schwer auf dem Land lastete … Er sollte mit einem Vertrag beendet und mit mehreren Hochzeiten zwischen hüben und drüben – unter anderem meiner Hochzeit – besiegelt werden. Für mich war Agapet vorgesehen, ein schwäbischer Edler, der besonders unbarmherzig gegen die Unseren gekämpft hatte und dabei auch einen Mann, der zu dieser Zeit um mich warb und den ich gerne zum Gemahl gehabt hätte, in einer Schlacht tötete. Ich wollte Agapet, der meinen Geliebten und meine Zukunft erschlagen hatte, nicht heiraten. Nur der Gehorsam gegenüber meinen Eltern, die auf der Hochzeit zum Wohle des Landes beharrten, zwang mich dazu. Aber als ich Agapet zum ersten Mal begegnete – vor dem Altar –, war es mir unmöglich, Ja zu sagen. Ich hasste seine Augen. Es gab Empörung – und neues Blut. Schrecklicher denn je wüteten Agapets
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