Die Sündenheilerin (German Edition)
habe ich meine ersten Lateinkenntnisse an den alten Inschriften auf den Steinsärgen erprobt. Und irgendwie war mir danach, als gehörten die Toten tatsächlich zur Familie, denn nun kannte ich ihre Namen und einen Teil ihrer Geschichte.« Er hielt für einen Moment inne, als betrachte er die alten Bilder erneut vor seinem inneren Auge. »Über die Jahrhunderte hinweg veränderte das Haus immer wieder sein Gesicht, aber geblieben ist ein altes Mosaik im Garten, das einstmals den Grund eines Wasserbeckens schmückte. Fische und Seesterne, die ein Wesen umringen, das den Oberkörper eines Mannes und den Unterleib einer Seeschlange hat. In der Hand hält dieser Seezentaur einen Dreizack. Die Vorstellung, dass die Menschen, deren Gebeine in den Särgen ruhen, vor Jahrhunderten genau dasselbe sahen wie ich, versetzt mich immer wieder in höchstes Erstaunen. Auch die Fundamente des Badehauses stammen noch aus dieser Zeit, aber im Laufe der Jahre wurden die Badebecken immer wieder erneuert und verbessert. Sie würden einem Sultan zur Ehre gereichen. Sie sind in nichts zu vergleichen mit den Badehäusern, die Ihr kennt. Keine hölzernen Zuber, sondern gemauerte Becken mit blau glasierten Fliesen, in denen duftendes Wasser zum Verweilen einlädt.«
Lena spürte die Sehnsucht in Philips Worten.
»Nebenan, zu ebener Erde, liegen die großen Säle, in denen mein Großvater wichtige Gäste empfängt. Im oberen Stockwerk befinden sich unsere Wohnräume. Meine Mutter und meine Schwester haben die schönsten Zimmer, lichtdurchflutet und mit geschütztem Blick in den Innenhof. Hinter dem Haus gibt es Stallungen und eine großzügige Reitbahn.« Bei den letzten Worten war Philips Stimme immer leiser geworden.
»Das klingt wunderschön, ganz so, als sei es ein Palast.«
»Ich habe mir nie etwas anderes gewünscht, als dort zu leben.«
Seine Stimme erstarb so jäh, als hätte er diese Welt für immer verloren. Wie gern hätte sie ihm weiter gelauscht, doch stattdessen hörte sie, wie er sich umdrehte und mit einem leisen Seufzen fester in seine Decke einwickelte.
Es war eine äußerst unbequeme Nacht. Lena fror trotz der Decke, und der harte Boden tat ein Übriges, ihr die Ruhe zu rauben.
Das erste Morgenrot zeichnete sich schon schwach am Horizont ab, als sie erwachte, weil sie sich erleichtern musste. In der Höhle war es noch immer dunkel, sie hörte das Schnauben eines der Pferde, den gleichmäßigen Atem der beiden Männer. Leise erhob sie sich und kletterte aus dem Höhleneingang hinaus. Der aufziehende Morgen spendete ihr genügend Licht, um ein passendes Strauchwerk für ihre Verrichtung zu finden. Als sie fertig war, kehrte sie zur Höhle zurück. Philip erwartete sie neben dem Eingang.
»Wie leichtsinnig von Euch, allein bei Dunkelheit nach draußen zu gehen!«
»Leider war es unumgänglich.«
Er sagte kein Wort. Sie versuchte in seinem Gesicht zu lesen, doch es war noch zu dunkel, um mehr als seine Umrisse zu erkennen.
»Warum macht Ihr Euch so große Sorgen um mich, Herr Philip?«
»Ich habe Euch versprochen, Euch sicher nach Sankt Michaelis zu bringen.«
»Ist das der einzige Grund?«
»Ich möchte nicht, dass Euch ein weiteres Leid geschieht. Ihr habt genug verloren.«
»Also Mitleid?«
Trotz der Dunkelheit sah sie, dass er den Kopf schüttelte. »Mitleid hilft niemandem.«
»Das sind harte Worte. Barmherzigkeit und Mitgefühl sind die Pflichten eines guten Christenmenschen.«
»Mitgefühl ist etwas anderes als Mitleid. Wisst Ihr, was Mitleid ist, Frau Helena? Eine widerwärtige Geißel. Eine aufgesetzte Miene, um falsches Beileid zu bekunden. Mitleid ist der Deckmantel der Häme. Habt Ihr es nicht selbst erlebt? Wenn die Menschen Euch bedauern, aber in Wahrheit nur darauf lauern, sich an Eurem Leid zu ergötzen? Es mit wohligem Schauer und bösartiger Tuschelei zu begleiten? Euch immer wieder nötigen, darüber zu reden, damit sie sich an dem Grusel erfreuen können? Und wenn Ihr schweigt, erfinden sie dann nicht selbst Geschichten, die sie Euch in den Mund legen?«
Fast wäre sie einen Schritt vor ihm zurückgewichen, so viel Verbitterung lag in seiner Stimme.
»Was ist Euch widerfahren?«, fragte sie leise.
»Das ist nicht wichtig. Aber Ihr wisst, dass ich recht habe. Ihr habt es auch gespürt, nicht wahr? Warum hättet Ihr Euch sonst in ein Kloster zurückgezogen? Ihr wart das Opfer, Ihr tragt keine Schuld an dem, was Euch angetan wurde, aber trotzdem versteckt Ihr Euch.«
»Wie kommt Ihr darauf,
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