Die Sündenheilerin (German Edition)
und kletterte in das düstere Loch hinab.
»Warum tut er das?«, fragte Lena Said.
»Das ist seine Art, das Leben zu spüren«, antwortete der Araber.
»Was meint Ihr damit?«
Said zögerte kurz. Lena glaubte schon, er werde nichts mehr sagen, dann antwortete er doch.
»Was denkt Ihr, Frau Helena? Kann ein Mensch ohne Glauben leben?«
»Sagt nicht, Philip hat den Glauben an Gott verloren.«
Said senkte den Blick, als habe er schon zu viel verraten.
Aus dem Loch, in dem Philip verschwunden war, hörten sie ein Scharren, dann straffte sich das Seil. Kurz darauf erschienen Philips Kopf und die Hand mit dem Licht.
»Das ist einfach unglaublich. Ich habe noch niemals etwas so Wunderbares gesehen.« Er reichte Said den Kienspan und hievte sich aus dem Loch hervor.
»Was gibt es dort unten?«, fragte Said.
»Frag nicht, schau es dir einfach an.«
Der Araber machte nicht den Eindruck, als sei er begierig darauf, wie Philip in das unbekannte Dunkel hinabzusteigen.
»Was ist mit Euch, Frau Helena? Habt Ihr mehr Mut als mein Freund?«
Trotz des Halbdunkels sah Lena, wie Said die Augen verdrehte.
»Ihr erwartet, dass ich mich dort hinunterbegebe?«, fragte sie.
»Keine Sorge, ich begleite Euch. Was ist? Wollt Ihr es sehen?«
Um nichts in der Welt wollte sie in den tiefen Abgrund der Geisterhöhle steigen, zugleich aber hielt sie etwas. Es war der Glanz in seinen Augen. Seine Seelenflamme strahlte hell und kräftig. Gab es dort unten wirklich etwas, das dieses Wagnis lohnte?
»Gut, Herr Philip. Reicht mir das Seil!«
Sein Gesicht verriet, dass er kaum mit einer Zustimmung gerechnet hatte. Sie lächelte ihn triumphierend an, als sie sich das Tauende um die Hüften schlang.
»Wollt Ihr mich noch führen?«
Er nickte und wandte sich an seinen Freund. »Gib mir eine von den großen Fackeln. Dort unten kann jedes Licht von Nutzen sein.«
Said reichte seinem Freund die Fackel, dann kletterte Philip voran. Lena tastete noch einmal nach dem Seil um ihre Hüften und bekreuzigte sich.
Die brennende Fackel spendete ausreichend Licht. Sie konnte Philip vor sich sehen, erkannte, dass der Gang nicht so lang und dunkel war, wie sie befürchtet hatte. Dahinter öffnete sich eine riesige Höhle, so groß, dass der Schein der Fackel nicht ausreichte, ihr Ende zu beleuchten. Von den Decken hingen bizarre Steingebilde herab, die im Feuerschein wie Edelsteine glänzten. Versteinerte Dämonen? Nein, es waren nur Tropfsteine, riesig wie Bäume.
Philip reichte ihr die Hand, als sie aus dem Gang in die Höhle rutschte.
»Ist das nicht wundervoll?« Er bewegte die Fackel hin und her, Schatten tanzten an den Tropfsteinen. »Ich habe schon so manche Höhle gesehen, aber noch nie eine solche.«
»Das ist alles, was Euch so in Verzückung versetzt?«
»Was sonst, wenn nicht dieser Anblick? Kein Wunder, dass die einfältigen Bauern glauben, hier würden Geister leben. Habt Ihr jemals so riesige Tropfsteine gesehen?«
»Ich habe Höhlen bislang gemieden.«
»Warum seid Ihr mir dann so bereitwillig gefolgt?« Er lächelte sie an.
»Weil ich sehen wollte, was Eure Seelenflamme zum Strahlen brachte.«
»Und nun seid Ihr enttäuscht?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nur verwundert.«
»Ich habe viel gesehen«, sagte er. »Zahlreiche Wunder, die meisten von Menschenhand erschaffen. Aber nichts bewegt mich so sehr wie Orte, an denen nie zuvor ein Mensch war, die ihre Schönheit einzig der Allmacht der Schöpfung verdanken.«
Hatte Said das gemeint? Musste Philip sich immer wieder selbst der Herrlichkeit Gottes versichern, um seinen Glauben nicht zu verlieren?
»Dann erblickt Ihr hier also die Schönheit Gottes?«
Er nickte. »Niemand könnte eine prächtigere Kathedrale erbauen. Seht die Gebilde an den Decken! Mit etwas Phantasie kann man sie für himmlische Boten halten. Und die steinerne Säule dort hinten, erinnert sie nicht an einen betenden Mann?«
Er schwenkte die Fackel in die entsprechenden Richtungen, bis die Steine zum Leben zu erwachen schienen.
»Ihr begebt Euch in Gefahr, um Gott zu spüren?«
»Befinden wir uns hier etwa in Gefahr? Was sollte uns geschehen?«
»Die Höhle hat gewiss nicht umsonst einen schlechten Ruf.«
»Menschen sehen, was sie sehen wollen«, wiederholte er seine Worte von zuvor. »Wer Dämonen und Geister sehen will, der wird sie finden. Aber es sind nur die eigenen Dämonen, die uns jagen. Und die finden uns überall, sogar in einer Kirche.«
»Ich weiß«, flüsterte Lena. »Das ist der Grund,
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