Die Sündenheilerin (German Edition)
»Ich habe Lena alles über meinen Vater erzählt. Auch über seinen Tod. Seither kann ich wieder ohne Schuldgefühle an ihn denken. Aber ich werde nie mehr einen Tjost reiten.«
»Warum nicht?«
»Ich kann es nicht mehr. Heute war es anders, da habe ich nicht nachgedacht. Ich sah dich blutend am Boden liegen, mein Körper handelte von selbst.« Philip atmete tief durch. »Aber bei dem Gedanken, mich darauf vorzubereiten, die Rüstung anzulegen, die Lanze zu nehmen, die Zügel zu binden, auf das Signal zum Waffengang zu achten … Ich weiß nicht, ob ich mein Pferd überhaupt noch antreiben könnte oder aber zur Salzsäule erstarren würde.«
»Auch dann, wenn dein Gegner Ulf von Regenstein hieße?«
»Ich habe mich nie vom Zorn leiten lassen. Ein Ritter, der die Beherrschung einbüßt, hat schon verloren. Das brachte mir Vater als Erstes bei, und deshalb war er so siegreich. Tritt nie mit Hass im Herzen in die Schranken, denn dann wirst du unterliegen. Erinnerst du dich an seine Worte? Deshalb sind jene Ritter am erfolgreichsten, die der Minne zugetan sind. Liebe ist die größte Macht. Wie in der Geschichte von Parzival und Gawan.«
»Dann dürfte dir doch nichts widerfahren. Die Dame für den Minnedienst hast du ja schon. He, lass den Stiefel liegen, denk daran, das Fenster steht offen!«
In dieser Nacht suchten Philip wirre Träume heim.
Wieder sitzt er im Sattel, spürt das Gewicht der Lanze in der Hand, die Hitze seines Atems, der dumpf und stoßweise unter dem Helm rasselt. Ein Ruck geht durch sein Pferd. Seine Lanze trifft den Schild des Gegners. Zerbricht das Wappen der Regensteiner. Auf der Tribüne reißt sein Vater die Arme hoch und jubelt. Wie damals, als er auf seinem Pony den ersten Sieg gegen eine Strohpuppe erringt.
Plötzlich ist er wieder vier Jahre alt. Sein Vater hebt ihn aus dem Sattel, schleudert ihn lachend in die Luft. »Du wirst sie alle besiegen!« In der Tür zum Hof erscheint seine Mutter. Sie lächelt, als sie ihn mit seinem Vater sieht.
»Siehst du unseren Sohn, Meret? Er ist der Größte!«
»Dann soll unser stolzer Ritter jetzt auch tüchtig essen.« Sie reicht ihm ein Stück Honigmelone und streicht ihm über den Kopf.
Als er aufwachte, fühlten sich seine Augen an, als hätte er im Schlaf geweint. Langsam stand er auf, sorgsam darauf bedacht, Said nicht zu wecken. Am Horizont erhob sich schon der rote Schein des neuen Tages. Er schüttete eine halbe Kanne Wasser in die Waschschüssel und spülte sich die verräterischen Spuren aus dem Gesicht. Auf einmal wusste er, warum sein Vater ihn wirklich in die alte Heimat geschickt hatte. Hier konnte er nicht mehr davonlaufen. Er musste sich entscheiden, wer er sein wollte. Ein dahergelaufener Fremder, den jeder Halbwüchsige als dreckigen Bastard beschimpfen durfte, oder aber der Sohn von Otto von Birkenfeld.
Es klopfte an der Tür. Er fuhr zusammen. Wer wagte es, ihn und Said um diese frühe Stunde zu stören?
Noch ehe er den unerwarteten Besucher hereinbitten konnte, wurde die Tür aufgerissen, und Schwester Margarita stand vor ihm.
»Oh, verzeiht, ich komme wohl unpassend.« Sie senkte die Lider, aber ihre Blicke huschten verstohlen über seinen nackten Oberkörper.
»Haltet Ihr es für schicklich, zu dieser frühen Stunde in die Kammer zweier Männer zu stürzen, ehrwürdige Schwester?«
Said war wach geworden und starrte die Nonne vom Bett aus mit großen Augen an.
»Ihr habt gestern doch beklagt, keinen Helm zu besitzen. Nun, hier habt Ihr einen.«
Hinter dem Rücken zog sie einen Sack hervor und hob ihn auf den Tisch neben der Waschschüssel.
Philip starrte auf den Sack, dann auf Schwester Margarita, dann wieder auf den Sack.
»Nun öffnet ihn schon!« Die Nonne trippelte ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. »Ich habe gestern noch einen Boten nach Eversbrück geschickt. Er kam erst sehr spät zurück, da wollte ich Euch nicht mehr stören. Aber ich dachte mir, beim ersten Morgengebet seid Ihr schon wach.«
Philip öffnete den Sack. »Das ist doch der Helm von Lenas Vater.«
»Ihr könnt die ganze Rüstung haben, wenn Ihr wollt.«
»Was sagt Lena dazu?«
»Sie weiß es nicht. Aber ich glaube, sie würde sich freuen, Euch darin zu sehen.«
»Tut mir leid, das kann ich nicht annehmen.«
»Ach was! Ich hab den grünen Stoff gesehen.« Sie hob den Zeigefinger, wie man kleinen Kindern droht. »Sie lässt sich gerade ein Kleid davon nähen. Höchste Zeit, dass sie wieder ins Leben zurückkehrt. Da solltet
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