Die Sünderin
Tisch schien es unmöglich, dass sich unter ihrer Fuchtel ein Kind auch nur halbwegs normal hatte entwickeln können.
Ein Zusammenhang tat sich ihm nicht auf. Er begriff nur eines: Warum Cora Bender ihre Schwester bisher nicht erwähnt hatte. Weil sich mit deren Tod eine Schuldenlast verband, die nichts und niemand tilgen konnte. Schuldig geworden noch vor der Geburt. Die gesamte Kraft aus Mutters Bauch gefressen.
Er hätte dieser Jammergestalt eigenhändig das Kreuz brechen können. Wie sie da über ihrem Teller hing, stand für ihn fest, Georg Frankenbergs Tod ging auf ihr Konto, um sieben Ecken vielleicht, aber das nahm ihr nicht ein Gramm Last von den knochigen Schultern.
Grit Adigar beschrieb ein eigenwilliges, stilles, in sich gekehrtes Kind und ein junges, rebellisches Mädchen, das sich einerseits rührend um die kranke Schwester kümmerte, dasandererseits ein wenig persönliche Freiheit suchte. Samstagabende mit Horsti im «Aladin».
Ein verrufener Schuppen. Es ging das Gerücht, man habe dort vor Jahren nicht nur Musik, Tanz und Getränke geboten bekommen. Drogen seien auch leicht erhältlich gewesen. Seit gut vier Jahren gab es «Aladin» nicht mehr. Es war jetzt nur noch ein nettes, sauberes Restaurant, in dem man vorzüglich und preiswert speisen konnte.
«War Cora rauschgiftsüchtig?», fragte er.
«Nicht solange sie hier war», erklärte Grit Adigar mit Bestimmtheit. «Sie war viel zu verantwortungsbewusst. Und später, wollen Sie eine ehrliche Antwort?»
Die wollte er schon aus Prinzip. Grit Adigar sagte: «Ich glaube es nicht. Ich fand immer, dass ihre Arme eher dagegen sprachen als dafür. Das müssen vereiterte Wunden gewesen sein. Ich hatte noch nie mit Junkies zu tun, aber den möchte ich sehen, der in eitrige Geschwüre sticht. Da nehmen sie lieber die Beine oder sonst etwas, das hört man doch immer. Ich habe sie darauf angesprochen damals. Und sie sagte: Ich glaube es auch nicht, Grit, aber ich glaube vieles nicht, und es ist trotzdem so. Es wäre doch kein Wunder, wenn ich gefixt hätte. Nach dem Drama hier.»
Ereignet hatte sich das Drama nach Grit Adigars Worten im August vor fünf Jahren. Sie hatte es nicht persönlich erlebt, war an dem fraglichen Samstag zu Besuch bei Bekannten gewesen und erst spät in der Nacht heimgekommen. Insofern konnte sie nur Vermutungen äußern, das betonte sie. Doch es waren Vermutungen, welche die Grenzen der Wahrscheinlichkeit erreichten.
Im April hatten die Ärzte festgestellt, dass es nun wirklich mit Magdalena zu Ende ging. Mitte Mai verschlechterte sich ihr Zustand. Cora verließ das Haus nicht mehr, nicht einmal um Einkäufe zu machen. Das musste Wilhelm übernehmen. Tag und Nacht saß Cora am Bett ihrer Schwester.
Das war die Zeit, in der Grit Adigar Horsti ein paar Mal zu Gesicht bekommen hatte, wenn er sich in der Straße herumdrückte, um wenigstens in Coras Nähe zu sein oder ihr einen Blick auf die Liebe ihres Lebens zu gönnen.
Da war ein Widerspruch zu dem, was Margret Rosch über die beiden Anrufe ihres Bruders erzählt hatte. Grit Adigar tat ihn leicht ab. «Da muss Margret Wilhelm falsch verstanden haben. Schlechte Gesellschaft! So hat er das bestimmt nicht ausgedrückt. Und wenn doch, dann bezog es sich nicht auf Horsti, eher auf Magdalena. Wilhelm kam nicht zurecht mit ihr – und sie nicht mit ihm. Das beruhte auf Gegenseitigkeit. Es war nicht leicht mit ihr. Wenn ein Mensch sterbenskrank ist, heißt das ja nicht, dass er keinen Willen hat. Magdalena hatte einen, das dürfen Sie mir glauben.»
Grit Adigar lächelte dünn und sprach weiter über die letzten Monate. Magdalenas endgültiges Sterben zog sich hin. Und wie das häufig war bei Todeskandidaten: kurz vor dem Ende blühten sie noch einmal auf, schienen sich zu erholen. Im August riskierte Cora es. Wilhelm und Elsbeth machten einen Besuch in Hamburg, Cora gönnte sich einen Samstagabend mit Horsti, dem Getreuen. Nur ein paar Stunden blieb sie weg. Als sie zurückkam, war ihre Schwester tot.
Grit Adigar erhob sich. «Ich will Ihnen etwas zeigen, kommen Sie mit.» Die auf ihren Teller starrende Elsbeth blieb in der Küche zurück. Grit Adigar ging vor ihm her in den Flur und stieg die schmale Treppe hinauf. Oben gab es nur drei Türen. Eine davon öffnete sie für ihn.
Dahinter lag ein spartanisch eingerichtetes Zimmer. Zwei Betten und einen Nachttisch, mehr gab es nicht. Auf dem Nachttisch stand ein kleiner Wecker, dessen Zeiger zwischen vier und fünf Uhr stehen
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