Die Sünderin
Nacht vergessen. Völlig vergessen. So etwas passiert wohl manchmal nach einem großen Schock.»
Die Möglichkeit, dass Cora tatsächlich erst im November vom Tod ihrer Schwester erfahren hatte, weil sie in der fraglichen Augustnacht nicht mehr heimgekommen war, zog Grit Adigar anscheinend nicht in Betracht. Rudolf Grovian tat es.
Johnny Guitar, dachte er, der halb Buchholz die Köpfe verdrehte. Für den sie Luft war. Bis zu diesem Abend. Drei Monate neben dem Bett der Schwester ausgeharrt. Dann wagt sie sich hinaus, glücklich und erleichtert, weil es Magdalena scheinbar besser geht. Und welch ein Glück erst, als Johnny sie endlich zur Kenntnis nimmt. Horsti wird kalt lächelnd abserviert, vielleicht ist er auch nicht im «Aladin» an dem Abend. Sie steigt mit klopfendem Herzen zu Johnny und seinem kleinen, dicken Freund in den silberfarbenen Golf. Vielleicht zusammen mit noch einem Mädchen, vielleicht auch nicht. Das war momentan nicht der springende Punkt.
Die Frage war nur noch, konnte man sich für die Erfüllung eines Wunschtraumes entschließen, die kranke Schwester ihrem Schicksal zu überlassen und nicht mehr heimzugehen? Schwer vorstellbar nach dem, was Grit Adigar erzählt hatte. Es stellte sich noch eine andere Frage, der er bisher nicht die entsprechende Bedeutung beigemessen hatte. Konnte eine schwere Kopfverletzung in wenigen Wochen heilen? Auch das war nur schwer vorstellbar.
Von Cora Benders Elternhaus machte er sich wenig später auf den Weg zu dem Restaurant, in dem man vorzüglich und preiswert speisen konnte. Er hatte Pech. Von fünfzehn bis achtzehn Uhr war geschlossen. Also fuhr er zuerst zum Kreiskrankenhaus, in dem Wilhelm Rosch um den Rest Leben in sich kämpfte, in dem Margret Rosch Wache hielt und das Pflegepersonal kommandierte. Mit Cora Benders Vater konnte er nicht reden. Und ihre Tante verteidigte vehement ihr Schweigen.
Was hatte denn ein vor fünf Jahren an Herz-Nieren-Versagen verstorbenes Mädchen mit dem Fall Frankenberg zu tun? Absolut nichts! Und man musste den Namen Magdalena nur erwähnen, um Cora den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Als besorgte Tante hatte Margret Rosch diese Entscheidung lieber ihrer Nichte überlassen wollen. Wenn er sich –bitte schön – erinnern möge! Sie hatte zu Cora gesagt: «Er zähl ihnen, warum du im August von daheim weggegangen bist.» Dass Cora es nicht erzählt hatte, sprach für sich. Ein Schuldkomplex, von dem sich ein biederer Kripobeamter keine Vorstellung machen konnte.
Den biederen Kripobeamten schluckte er ohne Protest. Margret Rosch ließ ihm auch keine Zeit für eine Zurechtweisung. Sie verstand sich gut darauf, von ihrem Versäumnis abzulenken und den biederen Kripobeamten auf eine andere Fährte zu setzen. Hatte sie doch montags – noch bevor sie ein Wort über Coras Wahnsinnstat verlauten ließ – zuallererst versucht, von Wilhelm den Namen der Klinik zu erfahren, in der ihre Nichte damals behandelt worden war.
Von einer Klinik wusste Wilhelm nichts. Nur ein Arzt! Und dieser Arzt hatte Wilhelm einen Namen und eine Adresse in Hamburg genannt. Doch als Wilhelm später einen Dankesbrief an diese Adresse schickte, kam der postwendend zurück. Adressat unbekannt!
«Interessant, nicht wahr?», fragte Margret Rosch in gemäßigterem Ton. «Welchen Grund hatte dieser Kerl, einen falschen Namen anzugeben? Was hat er mit ihr gemacht? Ich kann’s mir denken!»
Sie stieß die Luft aus und schüttelte den Kopf. «Wissen Sie, was mich am meisten ärgert, Herr Grovian? Dass ich Cora damals nicht habe hantieren lassen, als sie mit diesem Zeug in meiner Küche saß.»
«Mit welchem Zeug?»
Margret Rosch seufzte und deutete ein verlegenes Achselzucken an. «Heroin. Ich habe Ihnen doch erzählt, dass sie meinte, ihr elender Zustand sei eine Folge des Entzugs. Sie hatte sich am Bahnhof etwas besorgt und bat mich, ihr die Spritze aufzuziehen. Ich habe es ihr weggenommen. Ich dachte damals nur, sie kann nicht damit umgehen, weil der Kerl ihr das Zeug gespritzt hat. Aber inzwischen denke ich,wenn das der Fall gewesen wäre, da hätte sie doch zumindest einmal sehen müssen, wie er es aufzieht. Sie hatte keine Ahnung. Lassen Sie es auf einen Versuch ankommen, wenn Sie mir nicht glauben.»
Er glaubte ihr kein Wort mehr. Weder den angeblichen Arzt mit falschem Namen noch den Rest. Margret Rosch hatte Zeit genug gehabt, eine Absprache mit Grit Adigar zu treffen. Die nette Nachbarin bereitete den Boden vor, die rührige Tante setzte
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