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Die Sünderin

Die Sünderin

Titel: Die Sünderin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Hammesfahr
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fütterte, statt mit Kinderschokolade und Gummibärchen. Dass er sie Mama genannt hatte, war ohne Bedeutung. Irgendwann verband sein Unbewusstes den Begriff Mama vielleicht mit dem Geschmack von Golden Delicious und einem blutigen kleinen Schälmesser. Irgendwann würde seine Großmutter zu ihm sagen: «Lasst uns froh sein, dass sie fort ist. Sie war eine Schlampe. Was wir alles über sie erfahren haben, nachdem sie weg war   …»
    Irgendwann hörte sie Schritte zur Tür gehen. Es war nebensächlich. Der Sachverständige käme wieder – wie ein Dämon, den sie selbst aus der Hölle heraufbeschworen hatte.
    Die ich rief, die Geister, werd ich nun nicht los.
    «Der Zauberlehrling». Das Gedicht hatte sie für die Schule lernen müssen. Es war eins von denen, die der Arzt sie ständig hatte aufsagen lassen. Da hatte es ihr noch gut gefallen. Jetzt gefiel es ihr nicht mehr. Es waren zu viele Geister aufgetaucht.
    Und der, der gerade die Tür hinter sich schloss, durfte keine Ruhe geben, bis auch das letzte Körnchen Dreck an die Oberfläche gezerrt war. Ein paar perverse Freier, die einer süchtigen Hure den Schädel einschlugen, nachdem sie ihren Spaß gehabt hatten. Das war seine Aufgabe, dafür wurde er bezahlt.
    Sie konnte sich auflehnen gegen ihn – und damit alles hinauszögern. Aber es gab kein Entkommen, kein Recht zu schweigen. Ihre Rechte hatte sie mit dem kleinen Messer in den Mann gestoßen. Und die da draußen wollten wissen, warum. Sie hätte es auch gerne gewusst. Das Lied war kein vernünftiger Grund gewesen. Dass sie sich davor einmal gefürchtet hatte, war schon fast nicht mehr wahr.
    Irgendwann schlief sie ein, bemerkte nichts von den Frauen, die ins Zimmer kamen und vielleicht an ihrem Bett standen, vielleicht über ihr Gesicht strichen, vielleicht auch über ihr Haar, bevor sie sich in ihre eigenen Betten legten. Sie meinte am nächsten Morgen, es habe ihr jemand in der Nacht über das Gesicht und das Haar gestreichelt. Es musste Vater gewesen sein, der sie noch einmal in den Arm nehmen und ihr vielleicht einen Teller mit lauwarmer Bohnensuppe hatte bringen wollen, weil er doch wusste, dass sie hungrig war wie ein Wolf.
    Als sie aufwachte, waren die Betten schon wieder leer. Und sie fühlte sich halb tot, erinnerte sich an einen wüsten Traum kurz vor dem Erwachen, in dem sie sich die Nase mit Papierfetzen verstopfte und sich einen Knebel in den Hals stieß. Dann ein Schlag gegen die Stirn. Und nicht einmal das Bewusstseinverloren. Die Panik, die Atemnot. Das Rasseln des Schlüssels in der Tür. Die schrille Stimme der Wärterin: «Um Gottes willen! Hab ich mir doch gedacht, dass die durchdreht.» Fremde Finger im Hals. Rote Kreise vor den Augen. Endstation Irrenanstalt. Und das war kein Traum.
    Es gab Frühstück, sie nahm etwas davon, als ihr die linke Hand losgebunden wurde. Kurz nach dem Frühstück wurden auch ihre rechte Hand und die beiden Füße von den Fesseln befreit. Sie sollte aufstehen, sich waschen und anziehen. Ihre Glieder waren taub vom Liegen, ihr Verstand taub vor Angst. Um neun Uhr Termin beim Chef, sagte man ihr.
    Etwas in ihr weigerte sich, ihn so zu bezeichnen. Der Chef war nach wie vor Rudolf Grovian, ein furchtbarer Mann, der nie begreifen konnte, was er ihr angetan hatte. Aber ihn hatte sie wenigstens belügen können. Bei einem Psychiater hielt sie jeden Versuch für völlig aussichtslos.
    Professor Burthe, sagte man ihr. Er sah auch aus wie ein Professor, klein und mickrig. Ein Zwerg war er, das musste er auch sein. Nur Zwerge konnten sich in fremde Gehirne bohren, in jede Windung kriechen, hinter jede Biegung spähen. Er gab sich freundlich wie am Abend, verstrahlte Gelassenheit und Souveränität. Der gütige Allvater, der seine Augen tief in die Herzen anderer versenken konnte. Und er hatte die Augen offen.
    Es gab keine Renitenz mehr, kein Aufbegehren. Sie war klein geworden in der Nacht – mit Vater auf der Bettkante und seinem verzweifelten Versuch, ihr seine Liebe zu zeigen. Zu einem winzigen, durchsichtigen Menschlein hatte er sie damit gemacht, das in einem bequemen Sessel Platz nehmen durfte, um gemütlich zu sitzen, während es sein Innerstes bloßlegte.
    Der Professor begann mit der Frage, wie sie sich fühle.
    «Beschissen», sagte sie und atmete tief durch. Ihre Gelenke schmerzten, aber das war nicht so schlimm. Vater hätte nichtkommen dürfen. Sie hatte doch eigens gesagt, Margret solle verhindern, dass er kam. Sie begann das linke Gelenk mit der

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