Die Sünderin
er nachdrücklich. «Die Ärzte werden es Ihnen bestätigen. Und wenn Sie den Ärzten nicht glauben, fragen Sie Ihre Tante, sie hat die gesamten Unterlagen aus der Klinik. Da steht alles drin, Frau Bender. Ihre Schwester wäre auf jeden Fall gestorben, auch wenn Sie an dem Abend daheim geblieben wären. Sie hätten es nicht verhindern können.»
Etwas wie ein Lächeln verzog ihre Mundwinkel. Sie begann zu lachen oder zu schluchzen. Er konnte es nicht unterscheiden. «Halten Sie den Mund! Sie haben ja keine Ahnung, wovon Sie reden.»
«Dann sagen Sie es mir doch, Frau Bender. Sagen Sie es mir.»
Sie schüttelte den Kopf, bewegte ihn nur hin und her, von links nach rechts, von rechts nach links. So weit, dass ihr Kinn und die Nase jedes Mal eine Einheit bildeten mit dem Armansatz. Weiter tat sie nichts.
Ich kann mit keinem Menschen über Magdalena sprechen. Wenn ich es täte, offen und ehrlich erzählen, wie es mit ihr war, jeder müsste denken, dass ich sie gehasst habe – so sehr gehasst, dass ich sie töten konnte. Vater hat es gedacht, Margret hat es gedacht. Und Grit wusste nicht, was sie denken sollte.
Ich habe Magdalena nicht getötet. Ich kann sie gar nichtgetötet haben. Sie war doch meine Schwester, und ich habe sie geliebt. Nicht immer, das gebe ich zu. Nicht von Anfang an. Aber dass ich sie anfangs nicht mochte, war doch normal. Jedes andere Kind an meiner Stelle hätte genauso empfunden.
Magdalena hat mir die Kindheit gestohlen. Magdalena hat mir die Mutter genommen und Vater die Frau, die er bitter nötig gebraucht hätte. Die fröhliche, lebenslustige Frau, die sie angeblich einmal gewesen sein soll. Margret hat mir davon erzählt. Eine Frau, die Karneval feierte, die lachen und tanzen konnte und auch gerne mal ein Gläschen trank. Die regelmäßig und weil sie es selbst wollte mit ihrem Mann schlief. Die sich ein Kind wünschte. Die zu einer Mutter wurde, die restlos glücklich war über die Geburt ihrer ersten Tochter.
Ich habe meine Mutter nie lachen sehen, nur beten, nie glücklich, nur wahnsinnig. Und Magdalena hat sie verrückt gemacht. Wäre Magdalena nicht gewesen, hätte ich mir nie anhören müssen, ich hätte Mutter die Kraft aus dem Bauch gefressen. Ich hätte mir nicht jahrelang die Lippen und die Knie wund beten müssen. Ich hätte nicht mit Vater in einem Zimmer schlafen, ich hätte mir nie ansehen müssen, wie er sich selbst befriedigte. Ich hätte mir nie anhören müssen, dass ich für ihn nur ein saftiges Stück Fleisch war. Ich hätte nie diesen Ekel empfunden. Ich hätte nicht jahrelang ins Bett gepinkelt. Ich hätte nicht Zustände gekriegt wegen meiner Periode. Ich hätte eben eine Mutter gehabt, die mir alles erklärte und mir half, mit mir selbst fertig zu werden, wenn ich Schwierigkeiten bekommen hätte. Und vielleicht hätte ich die dann nie bekommen.
Aber Magdalena hat sie doch ebenso vermisst wie ich. Ich weiß noch, sie war gerade fünfzehn geworden, als sie einmal darüber sprach. Sie war wieder mal für zwei Tage in Eppendorf gewesen, war wieder durchgecheckt worden von obenbis unten. Elektrokardiogramm, Blutanalysen, alle möglichen Tests hatten sie mit ihr gemacht, bei denen am Ende nur eine Zahl herauskam. Es war jedes Mal eine verdammt kleine Zahl. Diesmal war es eine Fünf gewesen. Fünf Monate! So viel Zeit hatten die Ärzte ihr noch gegeben.
Ihr Herz war zu groß geworden, richtig ausgeleiert war es. Die Ärzte sprachen ganz offen mit ihr darüber. Früher hatten sie das bei Mutter versucht, aber da war nicht viel zu machen. Und Vater war zu der Zeit … Na ja, er interessierte sich nicht mehr für das, was im Haus vorging.
Wir lagen abends im Bett, nachdem sie wieder aus der Klinik zurück war. Es war noch hell im Zimmer. Magdalena schaute zur Zimmerdecke hinauf. «Inzwischen ist es mir egal, welche Frist sie mir setzen», sagte sie. «Sie haben sich bisher noch jedes Mal geirrt. So wird es auch diesmal sein. Du wirst es erleben. Ich werde mit meiner Pumpe alt und grau, und du wirst vermutlich die Einzige sein, die es erlebt. Ich nehme doch schwer an, dass unser lieb Mütterlein und Vater Saufkopf bis dahin längst das Zeitliche gesegnet haben.»
Sie verschränkte die Arme unter dem Nacken, nahm sie gleich wieder fort und fluchte: «Verdammte Scheiße, nicht mal liegen kann man, wie man will. Aber trotzdem: Das dauert noch ein Weilchen, ehe ich schwarz werde. Und eines musst du mir versprechen, Cora. Lass mich nicht faulen, steck mich nicht in
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