Die Sünderin
Es gibt in diesem Haus keine Cora mehr. Meine Tochter ist verschwunden. Ich dachte, ich hör nicht richtig.»
Das hatte Rudolf Grovian auch gedacht. Verschwunden! Schon Ende Juni? Wo Tante und Nachbarin überzeugt waren, Cora habe bis zum 16. August am Bett ihrer sterbenden Schwester ausgeharrt!
Allerdings waren sowohl Grit Adigar als auch MargretRosch plötzlich gar nicht mehr so überzeugt. Nach der Aussage ihrer Tochter trat Grit Adigar den Rückzug an. Sie war ja in der Zeit von Mai bis August nicht nebenan gewesen. Und irgendwie war das schon komisch, wenn sie jetzt darüber nachdachte. Als ob es Wilhelm plötzlich nicht mehr recht gewesen wäre, dass sie auf einen Sprung hereinschaute. Sie hatte sich nichts dabei gedacht, wenn er sie in der Küche abwimmelte. Sie hatte ihm geglaubt, wenn er mit sorgenvoller Miene zur Zimmerdecke deutete und murmelte: «Cora rührt sich nicht von der Stelle.» Warum sollte Wilhelm gelogen haben?
Das fragte Margret sich auch. Wenn Cora, wie Rudolf Grovian vermutete, bereits am 16. Mai verschwunden war, warum hatte Wilhelm dann bei seinem Anruf am 17. Mai nur von schlechter Gesellschaft gesprochen?
Wilhelm konnte man nicht mehr fragen. Rudolf Grovian hatte sein Glück bei Elsbeth Rosch versucht. Unter vier Augen! Margret, die sich nach dem Tod ihres Bruders im Haus einquartiert hatte, verließ widerstrebend die Küche. Und er hörte sich an, dass Magdalena in neu erblühter Schönheit zu Füßen des Herrn saß, nachdem jeder Makel und jeder sündige Gedanke aus ihrem alten Leib gedörrt war.
Es hatte nicht viel Sinn. Im ersten Moment dachte er, Elsbeth erinnere sich nicht mehr an ihre älteste Tochter. Doch dann erzählte sie ihm vom Geschöpf Satans, das sie alle genarrt hatte. Das in den Tempeln der Sünde verkehrte, statt Einkehr zu halten. Das die leidende Kreatur ins Verderben riss, weil es verblendet war von den Begierden des Fleisches. Zu welchem Zeitpunkt das Geschöpf Satans dem Elternhaus den Rücken gekehrt hatte, wusste Elsbeth nicht.
Ihr Gefasel konnte er vergessen. Da gaben die beiden anderen Aussagen mehr her. Leider hatten sie vor Gericht keinen Wert. Was Horst Cremer vorbringen konnte, war Hörensagen um drei Ecken. Er erinnerte sich nicht einmal mehr, werihn damals über Coras Treuebruch informiert hatte. Und Melanie Adigar hatte nicht gesehen, ob Cora in der Mainacht das Lokal allein oder in Begleitung Johnnys, des kleinen Dicken und des unbekannten Mädchens verlassen hatte.
Dass er sich mit ihrem Jugendfreund unterhalten hatte, schien sie zu freuen. Ihre Stimme wurde schwer vor Melancholie. «Wie geht es ihm denn? Was macht er? Ist er verheiratet?»
Sie ließ sich berichten, wollte wissen, ob Horsti sich nach ihr erkundigt habe. Dann erzählte sie ihrerseits. Von den Abenden im «Aladin». Wo sie manchmal getanzt und manchmal in einer Ecke gestanden hatten. Horsti schwärmte für Udo Lindenberg. Nicht die wüsten Songs, nur die sanften. «In den dunklen, tiefen Gängen der Vergangenheit. Ein Hauch Erinnerung treibt durch das Meer der Zeit.» Und jetzt tappte sie durch die dunklen Gänge. Ab und zu schwappte eine kalte Welle Zeit über sie hinweg.
Augenblicklich nicht, da war die Welle lauwarm. Sie lachte leise. «Er war ein lieber Kerl. Oft hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil ich ihn nur benutzte, um mir die anderen vom Leib zu halten. Ich wollte warten, bis der Richtige kam. Gemein, nicht wahr?»
Rudolf Grovian hob nur kurz die Achseln, ließ sie reden und strapazierte sein Hirn mit der Überlegung, wie er die Klippe Magdalena umschiffen und trotzdem den 16. Mai ansteuern könnte. Nur die Zeit im «Aladin» und die kurze Szene auf dem Parkplatz, über etwas anderes wollte er gar nicht mit ihr reden. Auf gar keinen Fall wollte er sie erneut hinter ihre Mauer scheuchen wie beim letzten Gespräch, wo er sich eine geschlagene Viertelstunde lang ihr Kopfschütteln angeschaut hatte, ehe er begriff, dass sie abgeschaltet hatte.
Nur wissen, wie es weitergegangen war mit ihr und Johnny. Es musste weitergegangen sein. Es gab nur diese eineMöglichkeit: Johnny gleich Hans Böckel. Böckel besorgte die Mädchen, hatte seinen Spaß mit ihnen und sorgte dafür, dass auch seine Freunde nicht zu kurz kamen. Und wenn es ihr so ergangen war wie der Kleinen, deren Schluchzer Melanie Adigar vor der Toilette belauscht hatte, bekam die Geschichte einen Sinn.
Von der großen Liebe an zwei andere Männer ausgeliefert. Mochte der Dicke auch ein
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