Die Sünderin
Vater vor sich. Aber eine Frau … Dann sah er Elsbeth am Küchentisch und schüttelte den Kopf. Alles Quatsch.
Er warf der noblen älteren Dame ein winziges Lächeln zu, heftete den Blick auf Eberhard Brauning und begann: «Ich war heute bei Frau Bender. Sie sagte, dass sie inzwischen auch mit Ihnen gesprochen hat. Sie waren einmal bei ihr?»
Als Eberhard Brauning zögernd nickte, erkundigte er sich: «Halten Sie ein Gespräch für ausreichend?»
«Natürlich nicht. Aber ich habe noch nicht alle Unterlagen beisammen. Ich warte auf das psychologische Gutachten.»
«Ich kann Ihnen sagen, was drin steht. Schuldunfähig!Georg Frankenberg war ein Zufallsopfer. Es hätte jeden treffen können.»
Eberhard Brauning schaute ihn mit leicht gerunzelter Stirn an. Auf eine Antwort hoffte er vergebens. Also fragte er: «Welchen Eindruck hatten Sie von Frau Bender?»
Die noble ältere Dame ließ ihn nicht aus den Augen. Das bemerkte er sehr wohl. Ihm fiel auch der Blick auf, mit dem sie der Antwort ihres Sohnes entgegenschaute, und ihr Lächeln. Er wusste es nur nicht zu deuten. Es sah fast aus, als amüsiere sie sich. Geantwortet hatte Eberhard Brauning noch nicht.
Rudolf Grovian grinste. «Na, kommen Sie, Herr Brauning. Sie führen solch ein Gespräch doch bestimmt nicht zum ersten Mal. Welchen Eindruck hatten Sie von Frau Bender? Sie hat Ihnen eine Menge Unsinn verzapft, habe ich Recht? Hat sie Ihnen auch was aus der Bibel erzählt, vom Erlöser und der büßenden Magdalena?»
Eberhard Brauning war von Natur aus ein misstrauischer und überaus vorsichtiger Mann. Und er führte solch ein Gespräch wirklich nicht zum ersten Mal. Normalerweise lief es darauf hinaus, dass so ein Polizist einem ins Gewissen zu reden versuchte. Es ginge nur mit einer Freiheitsstrafe. Und die sollte nicht zu knapp bemessen sein. «Überlegen Sie mal, was da alles zusammenkommt.» Das war ein Standardsatz. Und bei Cora Bender kam eine Menge zusammen.
Der «Unsinn», den sie ihm verzapft hatte, war ihm noch in bester Erinnerung. Er hatte ihn in den letzten Tagen auch häufig genug mit Helene durchgesprochen. Nicht nur den Unsinn, auch die klar verständlichen Aussagen über ihre Schwester. «Ich musste sie mir doch irgendwie vom Hals schaffen.»
Helene war derselben Meinung wie er. Sie hatte die Ermittlungsunterlagen durchgelesen und gesagt: «Hardy, ich kann von diesem Sessel aus nicht beurteilen, in welcher geistigenVerfassung sich diese Frau befindet. Ich kann dir auch nicht sagen, ob sie ihr Opfer kannte. Man sollte nicht völlig ausschließen, dass er nur ein ehemaliger Freier war. Gerade junge Männer aus guten Verhältnissen zieht es oft in dieses Milieu. Aber es wird der Polizei schwer fallen, diese Verbindung herzustellen. Und selbst wenn, ist das für dich eher ein Nachteil. Ich will dir nicht in deine Arbeit hineinreden. Ich weiß ja auch, dass du die Psychiatrie für eine unbefriedigende Lösung hältst. Aber vielleicht überdenkst du deine Einstellung noch einmal. In diesem Fall wäre es die beste Lösung. Viel tun für diese Frau kannst du ohnehin nicht. Bring sie dazu, mit Burthe über die Kreuze und die Erscheinung Gottvaters an ihrem Bett zu sprechen. Das wirkt kurioser als die Kurzschlussreaktion einer ehemaligen Nutte.» Helene hatte Recht!
«Herr Grovian», begann er, verzog das Gesicht zu einem wissenden Lächeln und sprach langsam und bedächtig weiter. «Ich bin nicht der Meinung, dass Frau Bender mir eine Menge Unsinn verzapft hat. Ich kann mir denken, dass Sie diese Frau lieber im Strafvollzug sähen. Aber …» Er wollte noch mehr sagen.
Rudolf Grovian unterbrach ihn mit einem einzigen Wort. Es klang sehr entschieden. «Nein!» Nach einer winzigen Pause erklärte er: «Am liebsten sähe ich sie auf der Terrasse ihres Hauses, am Bett ihres Söhnchens, vor dem Herd in ihrer Küche. Von mir aus auch in dem Kabuff, das sie ihr Büro nannte. Da hat sie sich wohl gefühlt. Da war sie erwachsen, tüchtig und zufrieden. Haben Sie sich die Ecke mal angeschaut? Das sollten Sie tun! Es gibt nicht mal ein Fenster. Sie war im Hause Bender nicht mehr als ein willkommenes Arbeitstier. Und trotzdem war sie da frei. Das war ihr Himmel. Da fragt man sich, wie muss ihre Hölle ausgesehen haben?»
Er konnte kaum glauben, dass er das sagte. Aber es kam flüssig über die Lippen. Und es war die Wahrheit. Zum erstenMal gestand er sich ein, dass der Herr Sachverständige nicht mit all seinen Absichten danebengelegen hatte. Die
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