Die Sünderin
bin eine Mörderin. Ich habe ein unschuldiges Kind getötet. Seit mein Sohn auf der Welt ist, stelle ich mir vor, wie es wäre, wenn er eine ältere Schwester hätte, die ihn liebt, die alles für ihn tut und immer für ihn da ist.
Als ich Johnny heute Nachmittag mit dieser Frau sah … Zuerst habe ich nur seinen Rücken gesehen. Da dachte ich noch, das kann nicht sein. Aber dann richtete er sich auf. Ich hörte ihn sprechen. Und dann spielte die Frau das Lied. Mein Lied.
‹Song of Tiger›.
Es war … Ich weiß nicht, was es war. Es ging so wahnsinnig schnell. Es ging irgendwie automatisch.»
Mit dem letzten Satz hob sie den Kopf, schaute dem Chef ins Gesicht und fühlte die Erleichterung wie eine warme Flüssigkeit durch den Körper fluten. Seine Miene war weich geworden. Er glaubte die Geschichte. Es war aber auch eine sehr gute Geschichte. Und da sie zu einem kleinen Teil auf Wahrheit beruhte, konnte niemand sie widerlegen.
Die kleine Kölner Altbauwohnung, in der Margret Rosch im Dezember vor fünf Jahren ihre Nichte aufgenommen hatte, lag an einer viel befahrenen Straße. Im Winter störte es Margret nicht. Da reichte es ihr, morgens und abends kurz durchzulüften. Im Sommer wurde es oft unerträglich. Bei geöffneten Fenstern drang neben dem Verkehrslärm auch der Gestank von Abgasen bis in den letzten Winkel. Blieben die Fenster geschlossen, staute sich die Hitze. Da hatte man beim Heimkommen das Gefühl, einen Brutofen zu betreten.
Heimgekommen war Margret Rosch an diesem Samstagabend kurz nach neun Uhr. Den Nachmittag und den frühen Abend hatte sie mit einem langjährigen Freund verbracht. Sie bezeichnete ihn nie anders als ihren Freund. Achim Miek, Doktor der Medizin mit eigener Praxis in der Innenstadt und seit dreißig Jahren ihr Geliebter.
Verheiratet war Margret nie gewesen, und jetzt lohnte sich das nicht mehr. Nach all den Jahren als Freundin konnte sie dem Gedanken, ihre persönliche Freiheit aufzugeben, nicht mehr viel abgewinnen. Obwohl Achim Miek jetzt darauf drängte. Er war seit gut einem Jahr verwitwet.
Margret hatte ihn nie gedrängt, niemals das Wort Scheidung ausgesprochen. Und nur ein einziges Mal hatte sie ihn gebeten, etwas für sie zu tun, nicht direkt für sie – für ihren Bruder und ihre Nichte. Es lag fünf Jahre zurück, im August war es gewesen – und nicht legal. Dass Achim Miek sie ausgerechnet heute daran hatte erinnern müssen, hielt Margret später für ein schlechtes Omen. Man hätte es eher Erpressung nennen können.
Sie hatte sich früher als geplant verabschiedet, um einer Auseinandersetzung aus dem Weg zu gehen. Als sie ihre Wohnung betrat, war sie nicht eben bester Laune. Die Luft war stickig. Aber es war spät genug, um alle Fenster zu öffnen. Der Verkehr hatte nachgelassen. Draußen war es einige Grade kühler als drinnen.
Sie nahm eine lauwarme Dusche. Anschließend richtete sie sich ein leichtes Abendbrot, aus dem gemeinsamen Essen im Restaurant war ja leider nichts geworden. Dann las sie ein paar Seiten in einem Roman, um die Enttäuschung und das ungute Gefühl zuzudecken.
Für halb elf war auf dem Ersten Programm ein Film angekündigt, den sie sich anschauen wollte. Als sie ihr Fernsehgerät einschaltete, sprach gerade ein gütig aussehender Mensch mit engagierter Miene über das große Vorbild, den Erlöser.
Margret vergaß auf der Stelle die eigenen Probleme, bis auf die Worte ihres Freundes: «Vergiss nicht, was ich für dich getan habe.» Wie hätte sie das vergessen sollen? Sie hatte bei dieser Sache damals entschieden mehr riskiert als Achim Miek. Unvermittelt spürte sie kalte Wut in sich aufsteigen, sah für den Bruchteil einer Sekunde die bläulich verfärbte Leidensmiene ihrer jüngeren Nichte vor sich, hörte Elsbeths sanfte Stimme ein Gebet murmeln. Der Geruch von brennenden Kerzen stach ihr in die Nase. Der Eindruck war so real, dass sie niesen musste.
Sie putzte sich die Nase, griff erneut nach dem Buch und konzentrierte sich auf die Zeilen, während der gütig aussehende Mensch noch ein paar Minuten lang referierte. Wenn man es so erlebt hatte wie Margret, konnte man dem nicht zuhören. Dabei hatte sie es nur sporadisch erlebt. Vierteljährlich für höchstens zwei Tage – und nicht einmal von Anfang an. Mit den regelmäßigen Besuchen bei ihrem Bruder hatte sie erst begonnen, als Wilhelm sie ausdrücklich darum bat. Zu dem Zeitpunkt war Cora neun Jahre alt gewesen. Und wenn Margret abreiste, sprach sie ebenfalls ein
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