Die Sünderin
Gebet, genauso inbrünstig wie die, die Elsbeth im Wohnzimmer murmelte. «Pass auf Cora auf, Wilhelm. Du musst etwas für sie tun, sonst geht sie vor die Hunde.»
Jedes Mal nickte Wilhelm und versprach: «Ich tu, was ich kann.»
Ob er es wirklich tat und wie viel er tun konnte, wusste Margret nicht. Sie wusste insgesamt nicht viel über ihn. Achtzehn Jahre Altersunterschied – das von der Mutter gehätschelte Nesthäkchen und der große Bruder.
Als Margret geboren wurde, hatte Wilhelm sich bereits als Freiwilliger zur Wehrmacht gemeldet. Er war in den Jahren danach einmal auf Urlaub daheim gewesen, doch daran erinnerte sie sich nicht. Daheim war damals Buchholz, die kleine Stadt nahe der Lüneburger Heide, in die es Wilhelm später zurückzog. Im Frühjahr 1944 verließen Margret und ihre Mutter die alte Heimat. Sie kamen ins Rheinland, wo noch Verwandte der Mutter lebten. Es war nach dem Umzug oft vom großen Bruder die Rede gewesen. Doch Margret lernte ihn erst kennen, als sie zehn Jahre alt und Wilhelm bereits ein gebrochener Mann war.
Es war nie offen darüber gesprochen worden. Aus den wenigen Andeutungen, die er im Laufe der Jahre gemacht hatte, zog Margret den Schluss, dass er in Polen an Erschießungen teilgenommen hatte, Zivilbevölkerung, auch Frauen und Kinder. Auf Befehl; hätte er sich geweigert, hätte man ihm vermutlich auch eine Kugel ins Genick gejagt oder ihn aufgeknüpft. Wilhelm konnte es nicht so sehen und wurde nicht damit fertig.
Er hielt es nicht lange aus im Rheinland bei Mutter und Schwester. Der Vater war in Frankreich gefallen. Und Wilhelm wollte zurück nach Buchholz. Vielleicht hoffte er, dort einen Teil der unschuldigen Jugend wieder zu finden.
Stattdessen fand er Elsbeth. Eine bildhübsche junge Frau aus Hamburg, eine fast übernatürliche Erscheinung mit weißblondem Haar und einem Teint wie Porzellan, mit einem Schicksal, wie es nach dem Krieg viele gehabt hatten – ein Verhältnis mit einem Sieger. Elsbeth war schwanger geworden, bekommen hatte sie das Kind nicht. Dass sie es mit Hilfe einer Stricknadel losgeworden und fast daran gestorben war,erfuhr Margret erst, als es bei Elsbeth nichts mehr zu retten gab. Aber es war eine Erklärung. Und Erklärungen waren das Wichtigste überhaupt.
In den eineinhalb Jahren, die Cora bei ihr verbrachte, hatte Margret häufig darüber gesprochen. Unzählige Nächte hatten sie zusammengesessen, über Schuld und Unschuld, Glauben und Überzeugung diskutiert. Über die Eltern, die langen kinderlosen Jahre ihrer Ehe. Wie Wilhelm sich an Elsbeths Seite allmählich von einem schwermütigen in einen lebenslustigen Mann verwandelte. Wie Elsbeth ihn mitriss, lachen, tanzen, lieben. Wie er begann, sein Leben zu genießen. Wie sie reisten, eine Woche Paris, drei Tage Rom, das Oktoberfest in München und der Prater in Wien.
Einmal im Jahr waren sie ins Rheinland gekommen. Karneval in Köln, den ließ Elsbeth sich nicht entgehen. Da trank sie auch mal ein Gläschen. Und wenn es ein Gläschen zu viel wurde, verfiel sie in melancholische Stimmung, erzählte ein wenig von Liebe, Leid und der schweren Schuld, die sie auf sich geladen hatte.
Als sie schwanger wurde, war Elsbeth fast vierzig, Wilhelm ging auf die fünfzig zu und war überglücklich. Zu Coras Geburt lud er Mutter und Schwester ein. Sie mussten unbedingt kommen und die kleine Enkeltochter und Nichte, dieses Geschenk des Himmels, bewundern. Ein hübsches Baby, kerngesund, mit Wilhelms dichtem dunklem Haarschopf und einem gesunden Appetit. Es hatte Elsbeth viel Kraft gekostet. Ganz matt lag sie in dem Krankenhausbett, fast ausgeblutet, blass und schwach, aber ebenso glücklich wie Wilhelm.
«Hast du sie schon gesehen, Margret? Geh nur, die Schwester wird sie dir zeigen. Alle hier sagen, dass sie selten so ein hübsches Kind gesehen haben. Und wie stark sie ist. Sie hält ihr Köpfchen schon aus eigener Kraft oben. Nie hätte ich geglaubt, dass ich einmal ein Kind im Arm halten darf – und dann so ein schönes. Der Herr hat mir verziehen, er hat mirein so großes Geschenk gemacht. Für so ein Kind gibt man gerne etwas von sich her. Ich werde mich schon wieder erholen.»
Doch ehe Elsbeth sich erholen konnte, wurde sie zum zweiten Mal schwanger, mit Magdalena. Die Todeskandidatin. Gezeichnet vom offenen Ductus Botalli, der Verbindung zwischen Aorta und Lungenarterie, die sich normalerweise bei der Geburt schließt, außerdem geschlagen mit mehreren Septumdefekten. Sowohl die Vorhöfe des
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