Die Sünderin
zu einer Katastrophe hatte kommen müssen, war vorhersehbar gewesen. Zu einer! Aus Margrets Sicht war die vor fünf Jahren geschehen, genau am 16. Mai – an Magdalenas Geburtstag. Cora war fast zerbrochen und ein halbes Jahr wie vom Erdboden verschluckt gewesen.
Nur mit Schaudern erinnerte sich Margret an den Anruf im Dezember des gleichen Jahres, an die Stimme ihrer Nichte am Telefon: «Darf ich zu dir kommen? Ich kann hier nicht mehr leben. Ich kann überhaupt nicht mehr leben, glaube ich.» Und wie sie dann vor ihrer Tür stand mit den zerstochenen Armen und der Kerbe in der Stirn. Und die Nächte bis weit in den folgenden März hinein, in denen Margret ausdem Bett gesprungen und ins Wohnzimmer gerannt war. Als Erstes immer nach den Händen gegriffen, damit Cora sich nicht verletzte. Grauenhafte Albträume und danach rasende Kopfschmerzen und eisernes Schweigen. Was immer mit ihr geschehen war, Cora konnte nicht darüber reden, sie sprach nur einmal von einem Unfall im Oktober.
Sie hätte Hilfe gebraucht, einen kompetenten Arzt. Aber sie ließ niemanden an sich heran. Margret musste betteln, ehe sie sich wenigstens einmal von Achim Miek untersuchen ließ. Die Kopfschmerzen seien wohl Ursache der Schädelverletzung, meinte Achim und wunderte sich, wie gut die Wunde verheilt war in der kurzen Zeit seit Oktober. Was die Albträume anging, vermutete er ein traumatisches Erlebnis. Und das aufzuarbeiten gehörte in die Hände eines Facharztes. Ein guter Psychologe könne wahrscheinlich helfen.
Cora winkte ab. Und irgendwie schaffte sie es ohne Hilfe. Inzwischen war es überflüssig, sich Sorgen um sie zu machen. Es ging ihr gut. Alle zwei Wochen kam sie sonntags zu Besuch mit Gereon und ihrem Söhnchen, erzählte vom eigenen Haus und der aufreibenden Arbeit im Büro.
Margret freute sich jedes Mal, mit welcher Begeisterung Cora in die ihr fremde Materie eingestiegen war. Gereon Bender war in Margrets Augen kein Traummann. Er war ein Trottel. Aber seit der Hochzeit mit ihm hatte Cora etwas Sinnvolles zu tun, keine Zeit mehr zum Grübeln – und absolut keine Probleme mehr. Immer machte sie einen ausgeglichenen Eindruck, wenn sie zu Besuch kamen. Am nächsten Tag wollten sie auch kommen.
Am Freitag hatte Margret noch mit ihrer Nichte telefoniert, kurz vor Mittag. Da hatte Cora ein bisschen nervös geklungen. In letzter Zeit klang sie freitags häufig ein bisschen nervös. Kein Wunder nach einer Woche voll Hektik und Stress im Büro.
Kurz vor elf, gerade als der Film begonnen hatte, rief Gereonan. Das hatte er bis dahin noch nie getan. Da war schon der Anruf an sich ein schlechtes Zeichen. Das zweite an diesem Abend. Gereon gab einen konfusen Bericht, von dem Margret im ersten Moment nur ein Wort verstand: Kripo!
Sie dachte, Cora sei etwas zugestoßen. Dass Cora zugestoßen haben könnte, der Gedanke wäre ihr nicht im Traum gekommen. Cora war rebellisch auf ihre Art, sie mochte auf manche Leute einen aggressiven Eindruck machen. Doch im Grunde ihres Herzens war sie sanft wie ein Lamm. Und Lämmer töten nicht, taugen nur zum Opfer.
Gereon hatte längst wieder aufgelegt, da hielt Margret den Telefonhörer noch am Ohr und war überzeugt, sie habe irgendetwas falsch verstanden. Sie versuchte einen Rückruf, aber es wurde nicht abgehoben, weder im Haus ihrer Nichte noch bei deren Schwiegereltern. Es dauerte eine Weile, ehe sie sich aufraffen konnte, die Auskunft anzurufen und die Nummer der Polizeibehörde des Erftkreises zu erfragen. Danach brauchte sie einen Cognac.
Es schwankte wie damals zwischen Nicht-wissen-Wollen und dem Bedürfnis, sich Gewissheit zu verschaffen, zwischen dem Wunsch nach Ruhe, einem Leben ohne Probleme und dem Bewusstsein, dass niemand für Cora einstand. Von Gereon Bender durfte man nichts erwarten. Er hatte mit seinem letzten Satz klargemacht, wie die Dinge für ihn standen. «Die ist für mich erledigt.»
Margret brühte Kaffee auf, trank zwei Tassen, um den Cognac zu neutralisieren. Dann wählte sie endlich, nannte ihren Namen und brachte ihr Anliegen vor. Doch es gab keine Auskunft am Telefon. Es gab auch nicht die Möglichkeit, sie mit einem der zuständigen Beamten zu verbinden. Das war Auskunft genug.
5. Kapitel
Rudolf Grovian schaltete das Aufnahmegerät vorläufig ab, als sie mit einem tiefen Atemzug zu erkennen gab, dass sie erst einmal genug erzählt hätte. Es war ein paar Minuten nach elf. Sie wirkte müde, ausgelaugt und sehr erleichtert. Er kannte den Effekt aus
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