Die Sünderin
flüstern begann, wurde ihm nicht bewusst. «Na, komm schon, Mädchen, steh auf. Tu mir das nicht an. Komm schon. Komm schon! Du warst doch okay.»
Auf ihrer Stirn zeichnete sich ein roter Fleck von der Größe eines Handtellers ab. Er schob mit zitternden Fingern ihr Haar zurück, um nach weiteren Verletzungen zu suchen, wohl wissend, dass er nur mit den Augen keine schwer wiegenden entdecken konnte.
Aber er sah die Einbuchtung im Schädelknochen und die gezackte weiße Linie direkt am Haaransatz. Ihr Atem ging flach, aber gleichmäßig. Er hob ihr linkes Augenlid an, genau in dem Moment, in dem Werner Hoß den Raum wieder betrat, dicht gefolgt von den beiden Kollegen, die sie für den Rest der Nacht in Verwahrung nehmen sollten. Hoß griff sofort nach dem Telefon.
«Sie sackte einfach weg», sagte Rudolf Grovian hilflos. «Ich hab zu spät reagiert.»
Zehn Minuten später traf der von Werner Hoß alarmierte Arzt ein. Es waren höllische Minuten für Rudolf Grovian. Zwar kam sie zu sich, noch bevor Hoß den Hörer aufgelegt hatte, aber es schien kein Funken Leben mehr in ihr. Wie eine Stoffpuppe ließ sie sich vom Boden aufheben und auf einen Stuhl setzen. Und als er ihr die Hand auf die Schulter legen, als er irgendetwas sagen wollte, schlug sie mit schwachen fuchtelnden Bewegungen nach ihm und schluchzte: «Gehen Sie weg. Warum haben Sie nicht aufgehört? Warum haben Sie mir nicht geholfen? Es ist alles nur Ihre Schuld.»
Dann wandte sie sich an Berrenrath und bettelte: «Können Sie ihn rauswerfen, bitte? Er macht mich verrückt. Er hat mir die Mauer kaputtgemacht. Das halte ich nicht aus.»
Rudolf Grovian sah sich gezwungen, den Raum zu verlassen, damit sie sich wieder beruhigte. Werner Hoß folgte ihm auf den Flur, räusperte sich mehrfach, ehe er sich erkundigte: «Wie ist das denn passiert?»
«Na, wie soll das passiert sein», fauchte Rudolf Grovian. «Sie hat’s doch gesagt. Ich habe nicht aufgehört und ihre Mauer kaputtgemacht.»
Hoß ließ ein paar Sekunden verstreichen, ehe er fragte: «Und was halten Sie von der Story?»
«Weiß ich noch nicht. Aus den Fingern gesogen hat sie sich das jedenfalls nicht. Ich habe noch nie erlebt, dass einer übers Flunkern zu Boden geht.»
«Ich auch nicht», sagte Hoß unbehaglich. «Dabei hätte ich geschworen, dass sie uns nach Strich und Faden belogen hat.»
Das Eintreffen des Arztes entband Rudolf Grovian von einer Antwort. Zu dritt betraten sie den Raum wieder. Sie saß unverändert auf dem Stuhl. Berrenrath stand neben ihr und hatte ihr eine Hand auf die Schulter gelegt. Ob er sie damit zu trösten oder zu stützen versuchte, war nicht zu erkennen.
Aber Halt brauchte sie anscheinend nicht mehr. Kaum hatte sie den Neuankömmling registriert, streifte sie die Apathie ab und protestierte erst einmal gegen das Erscheinen eines Weißkittels. Ihre Stimme klang lahm vor Benommenheit und Verwirrung, aber es ging ihr gut, es ging ihr blendend. Sie hatte weder Kopfschmerzen noch sonst was. Eine Spritze brauchte sie auf keinen Fall.
Der Arzt überprüfte ihre Reflexe, diagnostizierte nach einem langen Blick in ihre Pupillen einen simplen Schwächeanfall und sprach dabei mit Engelszungen auf sie ein. Dass ihr eine Injektion gut täte. Nur etwas für den Kreislauf, ein harmloses Stärkungsmittel, das sie wieder auf die Beine brachte.
Sie lachte hysterisch, verschränkte zuerst die Arme vor dem Leib, mit beiden Händen hielt sie ihre Taille umklammert. «Sparen Sie sich das Gesülze. Ich weiß, was Sie von mir wollen. Sie wollen nur an meine Arme.»
Dann streckte sie ihm abrupt beide Arme entgegen. «Bitte, bedienen Sie sich. Suchen Sie sich eine Vene aus, wenn Sie eine finden. Wollen Sie auch eine Blutprobe nehmen? Tun Sie’s lieber, sonst kriegen Sie am Ende noch Ärger. Wer weiß denn, was ich mir heute Morgen reingezogen habe.»
Der Arzt klopfte eine Weile auf ihre Armbeugen und entschied sich für den Handrücken. Er machte eine Bemerkung über eine Haut wie Leder, alte Narben und dass er solche Krater noch nie gesehen habe.
Rudolf Grovian hörte es zwar, aber er war zu erleichtert über ihre Reaktion, um auf der Stelle seine Schlüsse zu ziehen. Eine halbe Stunde später saß er ihrer Tante gegenüber.
Für Margret Rosch war es ein zäher Kampf gewesen. Hartnäckig sein, obwohl es um etwas ging, wovon sie lieber nichts gehört hätte. Sich nicht abspeisen lassen, obwohl es verlockend war. Es wieder und wieder versuchen, bis endlich ein Anruf
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