Die Sumpfloch-Saga Bd. 3 - Nixengold und Finsterblau
vor“, sagte Gerald. „Meine Tante konnte sich unsichtbar machen, genauso wie ich. Estherfein war auch ein Erdenkind, bevor sie eine Fee wurde. Hast du das nicht mal erzählt, Thuna?“
Thuna nickte.
„Mein Vater ist nicht das erste Erdenkind, das Türen öffnen kann, wo vorher keine waren. Auch Marias Talent ist nicht unbekannt. Das Volk der lebenden Steine soll von einem Erdenkind erschaffen worden sein. Aber ein Erdenkind, das sich in einen Vogel verwandelt – darüber habe ich noch nichts gefunden.“
Ein lautes Rumpeln, Krachen und Klirren ließ alle zusammenfahren. Pollux war nicht mehr zu sehen und die Geräusche kamen aus dem angrenzenden Raum. Thuna sprang als Erste auf und lief in das Zimmer, das Herr Winters Schlafzimmer sein musste. Das Fenster zum Garten stand offen, am Boden lag eine zerbrochene Blumenvase in einer Wasserpfütze und auf der Fensterbank hockte Pollux, mit den ausgebreiteten Flügeln schlagend. Sie hauten die Fensterflügel in regelmäßigen Schlägen gegen die Wand, was einen Heidenkrach machte.
„Pollux!“, rief Thuna. „Pollux, komm sofort da runter!“
Sie machte einen entschlossenen Sprung auf ihn zu, um ihn festzuhalten, doch da war es schon zu spät. Pollux stieß sich von der Fensterbank ab, und segelte mehr oder weniger elegant Richtung Boden. Thuna hielt sich die Fäuste vor den Mund und setzte zu einem Aufschrei an, verstummte aber sofort wieder, als sie sah, wie Pollux eine Baumkrone streifte und ins Trudeln kam. Thuna fehlte einfach die Luft zum Atmen, Schreien oder anderen Ausbrüchen. Sie sah schon vor ihrem inneren Auge, wie Pollux stürzte und auf den Boden aufschlug, tödlich verletzt. Doch Pollux, von der Baumkrone heftig aus seiner Bahn geworfen, hatte nicht vor, abzustürzen. Er drehte sich in der Luft wie eine fallende Katze und dann gelang es ihm, die Flügel im genau richtigen Moment wieder auszuklappen. Noch einmal sackte er ab, dann fing er sich mit einem Flügelschlag auf, flatterte weiter, gewann wieder an Höhe … und flog.
Er flog wie ein großer, schwerer Vogel. Mehrere Runden drehte er über dem Schulgarten, gebannt beobachtet von Gerald und den vier Mädchen, die inzwischen alle am Fenster standen und das Wunder bestaunten. Vielleicht ging dem Löwen die Puste aus oder er hatte seine Kräfte überschätzt, jedenfalls wurde er nach ein paar Runden schwerfälliger. Er mochte vorgehabt haben, über das Tal der beseelten Bäume hinwegzufliegen, stattdessen flog er mitten hinein ins herbstlich wogende Dickicht. Er verschwand, man hörte lautes Ästekrachen, dann war es still.
Oben am Fenster schauten sie sich die Augen nach dem Löwen aus. Er musste doch irgendwann aus dem Tal der beseelten Bäume gekrochen kommen? Doch der Kleine war nirgendwo zu sehen. Thuna hielt es nicht länger aus. Sie rannte aus Herr Winters Wohnung, die Treppen hinab, an der Bibliothek vorbei und weiter nach unten, hinaus in den Garten. Sie rannte, bis sie das Tal der beseelten Bäume erreicht hatte. Ganz außer Atem tauchte sie ein in die kühlen, wundertätigen Schatten dieser alten und, wie es hieß, besonders lebendigen Bäume. Doch wohin sie auch schaute, von Pollux fand sie keine Spur.
Kapitel 7: Dunkelplätze
Thuna suchte eine Weile hier und da und merkte, wie die Kühle und Gelassenheit der Bäume sie beruhigte. Sie musste sich nicht aufregen. Wenn Pollux sich verletzt hätte, dann wäre er noch hier gewesen. Wenn es ihm aber gut ging, dann würde er irgendwann in die Festung zurückfinden. Sie ging gerade um einen dicken Baumstamm herum, dessen Astlöcher wie die Augen alter Frauen aussahen, und zuckte zusammen, da plötzlich jemand vor ihr auftauchte. Groß, stark und finster. Es war Grohann, der Steinbockmann. Seine mächtigen Hörner sahen schwarz aus im Zwielicht unter den Bäumen. Wie immer trug er nicht viel auf dem Leib, nur eine Hose, um genau zu sein. Mit seiner graubraunen Haut war er gut getarnt. Thuna fragte sich, wie lange er schon in der Nähe gestanden und sie beobachtet hatte.
„Etwas verloren?“, fragte er mit seiner tiefen Stimme, die genauso einschüchternd war wie sein Äußeres.
„Nein! Das heißt, doch ... Pollux ist hier irgendwo notgelandet. Aber jetzt ist er weg.“
„Pollux.“
Das sagte er und dann sagte er erst mal nichts mehr. Er starrte Thuna mit seinen kastanienbraunen Augen an und sie überlegte, ob es wohl unhöflich wäre, schnell Tschüss zu sagen und zu verschwinden. Gleichzeitig hatte sie das Gefühl, dass ihre
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