Die Sumpfloch-Saga Bd. 3 - Nixengold und Finsterblau
auf die Seite von Grohann gezogen worden, obwohl doch alle Vernunft dagegensprach.
„Hast du vielleicht Pollux irgendwo gesehen?“, fragte sie.
„Oh, ja“, sagte Lars und dabei klang er zum ersten Mal fröhlicher. „Ich habe ihn über den Garten fliegen sehen, vorhin. So wie wahrscheinlich jeder hier in Sumpfloch.“
„Und danach?“
„War er weg“, sagte Lars. „Mir ist er nicht mehr begegnet.“
„Na, er wird wohl wieder auftauchen“, sagte Thuna.
Sie stand noch ein bisschen herum, während Lars das Kraut jätete, in der Hoffnung, dass er noch etwas sagte oder fragte. Aber er tat es nicht, weswegen sie sich plötzlich dumm und überflüssig vorkam. Sie murmelte einen Abschiedsgruß, den er nicht erwiderte, weil er ihn wahrscheinlich nicht gehört hatte. Dann ging sie am prächtig belaubten Phönixbaum vorbei, der im letzten Winter nur ein verkohlter Stumpf gewesen war, und spazierte zum Teich mit den fluoreszierenden Seerosenblättern, wo sie ihre Hand ins eiskalte Wasser tauchte. Es erinnerte sie daran, dass sie eine Unterwasser-Taschenlampe geschenkt bekommen hatte. Was sprach dagegen, jetzt gleich loszuziehen und das alte Feenlabyrinth unter Wasser zu erkunden?
Thuna fand, dass überhaupt nichts dagegensprach. Doch als hätte ihr Schicksal es gehört und fieberhaft einen Einwand ersonnen, ging jetzt oben im vierten Stock der Festung ein Fenster auf und Estephaga rief so laut, dass es ganz Sumpfloch hören konnte:
„Thuna, komm schnell auf die Krankenstation! Es gab einen Unfall!“
Thuna eilte zur Krankenstation und machte große Augen, als sie dort ankam. Denn da saß Lorren Krug, der Anführer der berüchtigten Bande, und hielt sich eine sonderbar verrenkte Hand. Neben ihm hockte eine sehr hässliche, braune Kröte mit einer Haut, die unentwegt blubberte und Blasen warf wie Fett in einer Pfanne. Und als wäre das noch nicht merkwürdig genug, kniete auf dem Boden ein Junge, dessen richtigen Namen Thuna nicht kannte. Man nannte ihn nur ‚die Walze’, weil er so groß und schwer war und jeden aus dem Weg schubste, der ihm in die Quere kam. Er heulte wie ein Schlosshund.
„Oh!“, sagte Thuna nur, als sie die Patienten erblickte. „Meine Güte.“
Estephaga stand in der Tür zum angrenzenden Krankenzimmer und winkte Thuna heran.
„Komm her, die Jungs da laufen uns schon nicht weg.“
Thuna folgte Estephaga in das andere Krankenzimmer und fragte sich: Was ist noch wichtiger als drei verletzte oder verzauberte Schüler? Sie sah es, als Estephaga zur Seite trat. Auf dem Krankenbett lag ein ohnmächtiger Hase. Es war Rackiné.
Maria ahnte nicht, was ihrem geliebten, ehemaligen Stoffhasen zugestoßen war, denn sie war weit weg. Nach der Teppich-Konferenz in Herrn Winters Wohnung hatte sie Sehnsucht nach ihrer Welt hinter den Spiegeln gehabt. Sie war gleich zu dem großen Spiegel im dritten Stock gelaufen, der mal zu einem Tanzsaal gehört hatte. Doch der Saal war vor einigen Jahrzehnten zu kleinen Zimmern umgebaut worden und übrig geblieben war nur ein Flur, dessen eine Seite ganz aus Spiegel bestand. Hier fiel es Maria besonders leicht, durch das Spiegelglas hinüber an den anderen Ort zu klettern, der nur ihr gehörte. Zumal sie von niemandem beobachtet werden konnte. Die Zimmer, die als Ausweichgästezimmer dienten, standen meistens leer.
Trotzdem schaute sich Maria auch diesmal sorgfältig nach allen Seiten um, bevor sie es wagte, in den Spiegel hineinzusteigen. Erst ein Bein, dann den Kopf, dann das zweite Bein. Weg war sie – verschwunden aus Sumpfloch und zu Hause in ihrer eigenen schönen Geisteswelt, in der immer Frieden herrschte. Sie schritt durch die vertrauten Zimmer voller Bücher und schöner Gegenstände und widerstand der Versuchung, sich in irgendeines der bequemen Polstersofas zu kuscheln und ein viertes Mal ihr Lieblingsbuch „Augsburg“ zu lesen. Stattdessen durchquerte sie einen Salon, eine Bibliothek, eine Dachkammer, eine Spielstube, ein altmodisches Bad, einen Wintergarten und ein Ankleidezimmer, bis sie den Ort fand, den sie suchte. Es handelte sich um ein Treppenhaus, in dem sie bisher nur einmal gewesen war. Es hatte keine Fenster und war von einem grauen Licht erleuchtet, das Maria nicht behagte. Alle Zimmer in der Welt hinter den Spiegeln hatten Fenster, nur dieser eine Ort hatte keine.
Als sie das Treppenhaus zum ersten Mal entdeckt hatte, war ihr bewusst gewesen, dass sie eine Grenze erreicht hatte. Einen Raum, der woandershin führen mochte,
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