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Die Tänzer von Arun

Titel: Die Tänzer von Arun Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth A. Lynn
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Bruder. Bring ihn uns zurück! Fühl dich zu ihm hin! Finde ihn!«
     

14. Kapitel
     
    Er stieg den Osthang zwischen den Feldern hinauf zum Wald. Das Gras war naß und glitzerte. Der Wind zwischen den Bäumen fuhr ihm kalt entgegen. Es roch nach Pinienharz. Die Nadeldecke federte unter seinen Schritten. Vögel spähten aus ihren Nestern in den Zypressenästen. Er sah den hochgehobenen Ringelschwanz eines Waschbären, der vor ihm durch das Gras davonhastete. Einmal glaubte er, etwas Rotes zwischen den zaungeraden Bäumen zu erblicken, und eilte in die Richtung, um es abzufangen. Doch dann hielt er inne. Er hatte die ganze Nacht hindurch Gespenster gesehen. Er würde sich nicht von Schatten verlocken lassen.
    Der Kreis sah genauso aus wie am Tag zuvor. Es war naß hier, kalt und still. Kerris schritt an den Teich. Er schimmerte wie die Iris eines Auges. Das Wasser war ein jettschwarzer Spiegel: Kerris sah sich selbst, die Bäume, das runde Loch des Himmels. Er hob ein Steinchen auf und warf es in den Spiegel. Die Spiegelung zersplitterte, symmetrische Kreise kräuselten sich blitzend zu den Rändern. Er ging einen Schritt weiter. Ein Zweig knackte unter seinem Fuß.
    Hände streiften ihm über die Schultern. Eine blonde Haarsträhne fiel ihm gegen die Wange. Er drehte sich um. Da stand sein Bruder.
    Kel sah aus, als müsse er jeden Augenblick zusammenbrechen. Die Nacht – oder der Gram – hatten die Kraft aus ihm versiegen lassen. Er war bleich. Die Augen graue schmutzige Flecken. Er starrte durch Kerris hindurch, als wäre er geblendet worden. Kerris legte ihm die Hand auf die Brust. Der Herzschlag raste. Er zitterte vor Erschöpfung.
    Kerris zog ihn zum Wasser hinüber. Sanft drückte er ihn auf den umgestürzten Baumstamm nieder. Er zog sich mühsam das Hemd über den Kopf und tauchte es ins Wasser, dann wrang er es zwischen Hand und Knien aus, bis es nicht mehr tropfte. Das Wasser triefte ihm die Beine hinab. Er preßte Kel das Hemd gegen die Stirn. Kel nahm es ihm mit beiden Händen ab und vergrub das Gesicht in dem feuchten Tuch. Wasser tropfte ihm in den Kragen und lief unter das Hemd.
    Er schauderte fröstelnd zusammen. Er hob den Kopf. Seine Augen konzentrierten sich wieder. »Es ist Tag«, sagte er.
    Die Stimme klang heiser, wie wenn er vergessen hätte, wie man spricht. Er griff nach Kerris' Hand. »Ja, es ist Tag«, sagte Kerris.
    Kels Mund bewegte sich heftig, tonlos.
    »Wo bist du gewesen?« fragte Kerris.
    »Ich war bei den Asech.« Der Griff seiner Hand war so hart, daß das Gefühl in der Haut abstarb. »Sie wagten nicht, mich anzuschauen. Ich wachte an Theras Leiche. Sie sind um mich herumgewandert. Ich fragte mich ... ich dachte, daß ich zu einem Gespenst geworden war.« Seine Stimme brach.
    »Das bist du nicht.« Kerris mühte sich vergeblich, seine Hand zu befreien. Nach einer Weile löste Kel die Finger. Sie hinterließen weiße Striemen auf Kerris' Haut.
    »Ich bin es nicht«, sagte Kel.
    »Nein.« Kerris hielt das Handgelenk nach oben. »Gespenster können sowas nicht tun.«
    »Sie können es bei anderen Gespenstern ...«
    »Ich bin kein Gespenst«, sagte Kerris. »Und ich sollte das wissen.« Er streichelte Kels Gesicht. Die Wangen seines Bruders waren kalt wie Marmor. Kel griff nach ihm, berührte ihn, als wolle er sich vergewissern, daß er aus Fleisch und Blut sei. »Wir haben auf dich gewartet.«
    Kel schauderte zusammen. Auf seiner Stirn brach Schweiß hervor. »Ich bin geritten und geritten«, flüsterte er. Seine Hände krampften sich zusammen.
    »Ich hab' dich einmal auf dem Kamm gesehen.«
    Kels Gesicht war jetzt grau vor Qual. »Kerris!« Er sackte in sich zusammen, kroch in sich hinein wie ein kleines Kind. Kerris stemmte sich gegen das Gewicht seines Bruders, hielt ihn fest. Kel zitterte so heftig, als könne er jeden Augenblick zerspringen.
    »Ich bin bei dir.« Er strich Kel über den Rücken. »Ich bin ja bei dir!«
    »Geh nicht weg!«
    »Ich geh nicht weg. Laß dich los, weine!«
    Kel tat es. Ein kleines Wimmern in der Brust, dann schweres heftiges Schluchzen, das sich gewaltsam über seinen ganzen großen Leib ausbreitete, als würde es ihn zerreißen. Kerris hielt ihn fest. Sein Bruder weinte, als hätte er nicht bereits die ganze Nacht hindurch geweint. Vielleicht hatte er nicht geweint, als er an Theras Bahre saß. Aus den untersten Zweigen der Bäume träufelte der Tau. Vögel kamen hervor, um Nahrung zu suchen, und pickten im Gras nach Würmern. Die Sonne stieg

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