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Die Tänzerin im Schnee - Roman

Die Tänzerin im Schnee - Roman

Titel: Die Tänzerin im Schnee - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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gewesen, bis er sich mit zweiundneunzig Jahren die Hüfte brach; danach war es sehr schnell gegangen. Und die arme Veronica war verrückt geworden (anders konnte man es nun einmal nicht ausdrücken) und lebte in Leeds von staatlicher Fürsorge.
    Nina beruhigte sich damit, dass wenigstens mit ihrem Kopf alles in Ordnung war. Das dachte sie zumindest, nachdem sie nun die Tabletten wegließ. Sie hatte Cynthia gesagt, dass es ihre eigene Entscheidung sei und dass sie mit den Schmerzen klarkommen würde. Sie war ja schließlich Tänzerin gewesen.
    Aber merkwürdigerweise war ohne die Tabletten auch alles andere irgendwie schärfer und deutlicher geworden, während ihr Geist nach etwas suchte, das ihn von den Schmerzen ablenkte. Erst gestern hatte sie sich dabei ertappt, wie sie Cynthia lange und mit großer Anstrengung von den Kriegsjahren erzählte, wie sie vor den Verwundeten in einem der Militärkrankenhäuser getanzt hatte, und von dem scheußlichen Gestank auf der Station für Verbrennungen, der sie bis heute verfolgte.
    Nina rollte sich zum Fenster hinüber und schaute hinaus auf die mageren Bäume. Wenn man ihre knorrigen Äste betrachtete, die wie ein Geflecht aus Venen im Himmel erschienen, würde man kaum vermuten, dass sie tatsächlich bald wieder Knospen tragen sollten. Nina war aufgefallen, dass es bereits länger hell blieb. Normalerweise mochte sie diese schrittweise Verlängerung der Tage – aber dieses Jahr verstärkte sie nur das Gefühl des Wartens in ihr. Wenn Shepley bloß hier wäre, wenn er nur kommen und sie erlösen würde. Eine
Auszeichnung

    »Soll ich eine neue CD einlegen?«
    Sie hatte Bach gehört. Wann war die Musik verstummt?
    »Ja, bitte, Cynthia. Ich danke Ihnen.«
    Nach kaum einer Minute drang Glière durch die Lautsprecher, die Eröffnungstakte von
Der eherne Reiter
. Durch Ninas Glieder fuhr eine weitere eiskalte Welle. Doch sie schloss die Augen, saß einfach da und hörte zu, und für lange Augenblicke tanzte sie dabei in ihrem Geiste.
     
    April 1951. Die Luft ist noch grau und kalt, nur das blühende Gold der Mimosen aus dem Kaukasus, die von Straßenhändlern verkauft werden, hellt das Bild etwas auf. Schnee und Regen werden zu Graupeln. Die Straßen sind schmutzig und kaum passierbar, voller Schlaglöcher und riesiger Pfützen. Die Kleidung der Fußgänger ist mit Schlamm bespritzt.
    Viktor kommt früher nach Hause als gewöhnlich, gerade als Nina zur Arbeit aufbrechen will. Sie wirft nur einen Blick auf sein Gesicht und fragt: »Bist du krank?«
    Langsam antwortet er: »Sie haben Gersch aus dem Konservatorium geworfen.«
    Nina schließt die Augen. Der Anfang vom Ende. Da jeder Bürger arbeiten muss, ist Arbeitslosigkeit eine Straftat. »Ich verstehe das nicht«, gibt sie zurück und sucht in Viktors Gesicht nach einer Erklärung. »Wer entscheidet diese Dinge?«
    Viktor steht immer noch im Mantel da. »Ich gehe zu ihm. Er wird uns brauchen. Vielleicht kannst du Vera Bescheid geben.«
    »Ich weiß gar nicht, ob wir heute Abend zusammen tanzen. Aber ich versuche sie zu finden.«
    »Ich werde nachsehen, ob sie bei deiner Mutter ist. Komm zu Gersch, wenn du fertig bist.«
    Als Nina über den nassen Asphalt auf dem Platz zum Bolschoi-Theater läuft, bleibt die übliche Aufregung eines solchen Abends aus, obwohl sie heute wieder für Stalin tanzen wird. Diesmal erscheint er, um einen Besucher aus Laos zu unterhalten; wie alle Ausländer will der Abgesandte
Schwanensee
sehen. Der arme Jossif Wissarionowitsch – wie oft musste er sich das Stück nun schon anschauen? Den melodramatischen, protzigen
Schwanensee
. Was bedeuten diese belanglosen Phantasiegebilde schon, wenn überall um sie herum diese schrecklichen, unerklärlichen Dinge geschehen? Die Zeit, in der Nina sich nichts Schöneres vorstellen konnte als die Schwanenmädchen, wie sie sich rund um Odette nach vorn strecken und über ihre Beine beugen, ist schon lange vorbei … Jetzt erscheint ihr das alles nur noch wie Heuchelei.
    Das Theater ist wie immer in Aufruhr, dieselben strengen Wachen, dasselbe aufgeregte Hin und Her; nur Nina fühlt sich diesmal ziemlichlustlos. Sie eilt auf der Suche nach Vera durch die langen Flure, vorbei an Tischlern, die letzte Reparaturen vornehmen, Schustern, die in der Schuhwerkstatt Ballettschläppchen flicken, Perückenmachern, die Haarteile ausbürsten und mit Lockenwicklern versehen.
    Eine Gruppe Handwerker mit schweren Werkzeuggürteln macht gerade eine Zigarettenpause in einem

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