Die Tänzerin im Schnee - Roman
sie ihren Namen, und Lenore erklärte: »Ja, nur einen Augenblick, sie steht direkt da drüben.«
Drew wandte sich um und sah die Frau in dem glänzenden rosa Mantel mit ausgestreckter Hand auf sich zukommen. Erst jetzt konnte Drew ihr Gesicht sehen und erkannte es sofort.
»Ms. Brooks, schön, Sie wiederzusehen.« Drew bemerkte wieder diesen ganz leichten Akzent, als sie ihr die Hand schüttelte.
Dann erzählte Cynthia ihr von Nina Rewskajas Bitte, an wen der Bernsteinschmuck gehen sollte, und dass sie einen Garantieschein von der Bank dabeihatte und einen Brief für Drew – sowie einen zweiten Brief, den Drew an Grigori Solodin weitergeben sollte.
Da Drew ihm gesagt hatte, sie würde etwa eine Stunde brauchen, um alles fertigzumachen, entschied Grigori, in der Zwischenzeit Zoltan nach Hause zu begleiten. Ein Spaziergang zum Kenmore Square in der erfrischend milden Frühlingsluft, der ihm trotz ihres gemächlichenTempos neuen Schwung verlieh. Grigori wünschte zwar, er hätte Drew Bescheid gegeben, bevor er ging, aber er hatte ja selbst gesehen, wie beschäftigt sie war, und nahm an, sie würde verstehen, dass er nicht dort gewartet und versucht hatte, ein paar hastige Worte mit ihr zu wechseln.
Die Abenddämmerung setzte gerade erst ein, und der Himmel war rot. Zoltan überlegte: »Wie es sich wohl anfühlt, etwas auf diese Art loszuwerden. Eine Sammlung, die man sein Leben lang Stück für Stück angehäuft hat. Und dann wird sie innerhalb von wenigen Stunden auseinandergerissen, und all die verschiedenen Leute machen sich mit ihrer Beute davon – den Dingen, die einmal dir gehört haben.«
»Ich könnte mir vorstellen, dass es sich gar nicht so schlecht anfühlt«, erwiderte Grigori. »Man wird etwas los, von dem man genug hatte. Ich denke, dass ich aus diesem Grund auch nie ernsthaft etwas gesammelt habe. Es bedeutet ja immer auch eine Last.«
In Wirklichkeit hatte er sich für einen Augenblick den Tränen nahe gefühlt, als die Frau im rosa Regenmantel den Zuschlag für den Bernsteinanhänger bekam. Nicht so sehr, weil er die Kette zurückhaben wollte, sondern wegen der Geschichte, die hinter ihr steckte, von diesen zwei unglücklichen Menschen, ob sie nun tatsächlich seine Eltern waren oder nicht, die den teuersten Preis dafür bezahlt hatten, dass sie etwas Unerlaubtes taten, obwohl sie doch nur ihren Herzen folgten.
Jedes der Stücke beschließt in sich eine kleine Welt. Sie erinnern mich an die Datscha (mit den vielen Insekten!) und an die Abendsonne, wie sie direkt in den See zu fallen schien
.
»Ja, ich verstehe, was du meinst«, gab Zoltan zurück. »Obwohl es mir persönlich schwerfällt, irgendetwas aufzugeben.«
Grigori erklärte: »Ich glaube, dass es mich bedrücken würde, eine Sammlung zu besitzen, zu der ich ständig etwas hinzufügen muss und die mich überallhin begleitet, wohin es mich auch verschlägt – zu welcher Person ich mich am Ende auch entwickle. Selbst wenn ich schon längst dem entwachsen bin, was ich einmal war.«
»Wenn ich dich so reden höre«, warf Zoltan ein, »kommt mir der Gedanke, dass ich wohl in der Tat eine Art Sammler
bin
. Ein Sammler meines eigenen Lebens. Ich habe mit sechzehn angefangen, Tagebuch zu schreiben, und führe es noch heute, mit sechsundsiebzig, fort,ganz zu schweigen davon, dass ich darin lese, all diese Bände mit mir herumschleppe und mir hier und da etwas für meine Memoiren herauspicke.«
Grigori dachte an das kleine Tagebuch von Drews Großvater in seiner Tasche und an die Übersetzung, die er am Vormittag abgetippt hatte. »Du hast mich gerade an etwas Wunderbares erinnert, das mir heute Morgen passiert ist. Eine Art Entdeckung. Sie hat mich sogar auf eine Idee für ein neues Projekt gebracht.«
»Wirklich?«
Während sie sich Zoltans Wohnhaus näherten, erzählte Grigori ihm von dem Tagebuch, das er übersetzt hatte, und von all den anderen Tagebüchern, geschrieben von Bürgern der Sowjetunion, die womöglich in den KGB-Archiven herumlagen. »Natürlich wird es eine Menge Arbeit. Aber das wäre es doch wert, oder? Eine ganze Reihe neuer Stimmen, die nicht länger stumm bleiben müssen.«
Dass Zoltan seine Idee gefiel, machte Grigori nur umso begieriger, mit der Arbeit zu beginnen, am liebsten noch in diesem Augenblick, in dem er sich von seinem Freund auf dem Bürgersteig verabschiedete. Um sie herum wurde es langsam dunkel, und die hohen Straßenlaternen, die ein leicht grelles Licht warfen, unterbrachen die Düsterkeit des
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