Die Täuschung
Jonah warf einen Blick auf eine Uhr in der Nähe. »Wir haben nicht die Zeit, Ihnen alle Geschichten zu erzählen, aber ich glaube, die wichtigsten sollten Sie schon hören, wenn wir erreichen wollen, dass Sie uns glauben.«
»Ja«, sagte ich. »Das sollte ich wohl.«
Die zwei wechselten einen jener raschen Blicke wortloser Verständigung und stillschweigenden Einverständnisses, wie sie so oft kennzeichnend für Zwillinge sind; dann nickten sie beide, und Eli sagte zu seinem Bruder: »Du nimmst das Evangelium. Ich nehme die Knochen.«
»Wie bitte?«, sagte ich.
Jonah wandte sich mir zu. »Okay. Kurz gesagt, Malcolm hielt es für an der Zeit, dass wir uns mit dem Thema Religion befassten, weil die Menschen beschlossen hatten, sich ihretwegen wieder gegenseitig umzubringen, und zwar auf eine Weise, wie man es seit den Kreuzzügen nicht mehr erlebt hatte. Und als er an die Kreuzzüge und so einiges andere dachte, entschied er sich dafür, das Christentum ins Visier zu nehmen.« Reichlich schockiert und gereizt sah ich zu, wie Jonah drei Atombehälter von dem Bord nahm und damit zu jonglieren begann. »Es war wieder ein Dokumentenjob für Leon und Julien. Sie haben bestimmt davon gehört – das fünfte Evangelium?«
Erst die Jongliererei mit den Bomben, und nun auch noch das – ich taumelte in eine Ecke. Das »fünfte Evangelium« war, wie nicht nur ich, sondern fast alle Welt inzwischen wusste, vor etlichen Jahren in einem abgelegenen Winkel Syriens entdeckt worden. Dieser Text – angeblich vom Apostel Paulus Mitte des ersten Jahrhunderts verfasst – erklärte es für notwendig, zum Zwecke der Verbreitung des Glaubens Lügen über das Leben und die angeblichen Wunder Jesu Christi zu erzählen, und gab diversen Sektenführern im ganzen Gebiet Anweisungen, wie sie dabei verfahren sollten. Auf die Folgen dieser »Enthüllung« brauche ich hier wohl nicht näher einzugehen – denn während der Narrenkongress und die Churchill-Kontroverse sich zumindest anfangs auf Politiker- und Historikerkreise beschränkt hatten, wurde der größte Teil der Welt sofort in die Auseinandersetzung um das fünfte Evangelium hineingezogen und davon polarisiert, was dazu führte, dass eine beispiellose Anzahl von Websites und journalistischen Online-Organen entstand, die sich ausschließlich dieser Debatte widmeten.
»Das wart ihr ?«, sagte ich wie betäubt. »Aber es ist das wissenschaftlich am gründlichsten untersuchte Dokument in der Geschichte!«
»Ja, die Jungs haben wirklich gute Arbeit geleistet«, antwortete Eli.
»Jesus Christus«, flüsterte ich, ohne mir bewusst zu sein, was ich sagte, und erntete dafür von den anderen beiden ein Lachen.
»Beim nächsten großen Job«, sagte Eli, »haben wir dann eine volle Kehrtwendung gemacht.« Während er sprach, trat er vor und fing an, die Bomben, die sein Bruder ihm zuwarf, aufzufangen und wieder zurückzuwerfen. »Ich bin sicher, davon haben Sie auch schon mal was gehört, Gideon – ›Homo inexpectatus‹ ?«
Mein Schock wich auf der Stelle unverhohlener Ungläubigkeit. »Jetzt übertreiben Sie’s aber«, sagte ich und zeigte auf ihn. »Das kann nicht sein! Es ist wissenschaftlich nachgewiesen, dass er vollkommen echt ist!«
»Na klar.« Eli hätte beinahe eine der Bomben fallen lassen. »Es ist wissenschaftlich nachgewiesen, dass er echt ist, weil ihn Wissenschaftler konstruiert haben. Wir nämlich. Und Julien natürlich. Sehen Sie, Malcolm war der Ansicht, es sei nur fair, als Nächstes die Wissenschaft aufs Korn zu nehmen, nachdem wir der Religion eins verpasst hatten. Deshalb besorgten Jonah und ich uns ein paar anatomisch überzeugende heutige Skelette – vergleichsweise kleinwüchsige Erwachsene –, und Julien nahm einige kleine molekulare Manipulationen vor. Dann schmuggelten Jonah und ich sie in eine abgelegene Ausgrabungsstätte in …«
»In Südafrika«, sagte ich, und mit einem Mal war ich mir wieder unsicher: Die sterblichen Überreste, von denen sie sprachen, hatten nämlich nach ihrer Entdeckung einen internationalen Sturm entfacht, weil selbst die skeptischsten Wissenschaftler keine Möglichkeit fanden, die Behauptung anzufechten, sie seien mindestens fünf Millionen Jahre alt. Mit anderen Worten, die angebliche Existenz eines »fehlenden Bindeglieds« zwischen Mensch und Affe war – zusammen mit der ganzen Theorie der Evolution – allem Anschein nach diskreditiert worden, weil Menschen, die uns sehr ähnlich waren, offenbar gleichzeitig mit
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