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Die Täuschung

Die Täuschung

Titel: Die Täuschung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caleb Carr
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hat.«
    »Ah.« Ich blieb stehen, wo ich war, und trat von einem Fuß auf den andern. »Aber … das ist eigentlich keine Erklärung für all das hier, nicht wahr?« Ich zeigte auf die Bildschirme.
    Ich weiß nicht, was für eine Reaktion ich auf eine solch direkte Frage erwartet hatte, aber jedenfalls überraschte er mich. Er schmunzelte gutmütig und deutete dann mit einer Hand auf einen leeren Stuhl neben seinem. »Setzen Sie sich, Doktor, dann erkläre ich es Ihnen«, sagte er. »Die ganze Sache hängt nämlich von Ihnen ab.«

24
    A ls ich neben dem Colonel Platz nahm, sagte er: »In manchen Priester- und Mönchsorden wird immer noch der Brauch der Selbstgeißelung praktiziert. Finden Sie das pervers, Doktor?«
    »Extrem«, erwiderte ich, während ich mit ihm zusammen auf die Monitore schaute. »Aber nicht pervers. Ist es das, was Sie hier betreiben – Selbstgeißelung? Mit schmerzhaftem Licht und Lärm anstelle der Peitsche?«
    »In gewisser Hinsicht bestimmt«, antwortete Slayton mit einer Offenheit, die mich wie alles andere an dem Mann sehr beeindruckte. »Für den größten Teil meines Lebens, Doktor, war diese Welt« – er zeigte auf die Bildschirme – »die Wildnis, die ich bereist habe, in der ich darum gekämpft habe, den Heiden den Glauben der Demokratie zu bringen. Bis …« Er begann abzuschweifen, fing sich aber rasch wieder. »Es ist eine Sache, wenn man entdeckt, dass der Gott, den man anbetet, Füße aus Lehm hat. Eine ganz andere ist es, wenn man feststellt, dass diese Füße in Blut getaucht sind. Nicht nur ins Blut der Feinde, sondern auch in das der eigenen Kameraden. Und wenn einem klar wird, dass man selbst die Mitschuld an ihrem Tod trägt. Die Mitschuld – durch Unterlassung …«
    Ich sah zu, wie ihm erneut Tränen in die Augen traten, dann sagte ich: »Colonel, Sie denken an den Taiwanfeldzug. Aber Sie können nicht …«
    »Ich denke an Bosnien, Serbien, Irak, Kolumbien und, ja, Taiwan«, warf er rasch ein. »Und an das halbe Dutzend anderer Länder, wo ich im Namen der Freiheit getötet und meine Männer in den Tod geschickt habe. Können Sie sich vorstellen, wie das war, als ich herausfand, dass die einzige Freiheit, an der meine Vorgesetzten jemals wirklich interessiert waren, die Freiheit ihrer zahlungskräftigen Herren war, in diesen Ländern Geschäfte zu machen? Ich bin kein Dummkopf, Dr. Wolfe. Zumindest halte ich mich nicht für einen. Wieso habe ich es dann nicht bemerkt? Nicht einmal andeutungsweise? Die internationalen Handelsvereinigungen und Sicherheitsbünde, deren Autorität wir garantiert haben – haben sie auch nur in einem dieser Länder die Tyrannei, die Ausbeutung oder die Ungleichheit ausgerottet, wie man es uns vorher weisgemacht hat? Haben sie jemals auch nur einem einzigen unterdrückten Land echte Freiheit gebracht?«
    Slayton schüttelte eine geballte Faust. »Und trotzdem haben wir weiterhin ihren Befehlen gehorcht – das Blut unserer Feinde für sie zu vergießen und unsere eigenen Soldaten sterben zu lassen. In Taiwan ist dann völlig klar geworden, dass wir nur dort waren, um zu sterben – dass Washington nicht die Absicht hatte, Pekings Machtübernahme zu verhindern, dass es in Wirklichkeit mit den Kommu-Kapitalisten gemeinsame Sache gemacht hat. Mir war damals die Regierung von Taiwan egal, Doktor, und ich habe auch heute nichts für sie übrig. Aber warum mussten meine Männer für einen derartigen Zynismus sterben? Und vor allem« – Slaytons Brust hob und senkte sich heftig – »warum habe ich es nicht erkannt ?«
    Ich zuckte die Achseln. Es hatte keinen Zweck, jemanden wie ihn mit Samthandschuhen anzufassen. »Mundus vult decipi« , sagte ich leise.
    Sein flüchtiges Lächeln kehrte zurück. »Danke, Doktor.«
    »Tut mir Leid …«
    »Nein, ich meine es völlig ernst. Danke, dass Sie mir herablassende, falsche rationale Erklärungen ersparen. Ja, jeder will getäuscht werden, und das wollte ich auch. Ich wollte glauben, was ich als Kind gelernt hatte. Als mein Vater in einem Leichensack vom Persischen Golf heimkam und wir ihn in Arlington begraben haben, wollte ich glauben, dass es bei seinem Krieg nicht darum gegangen war, Blut für Öl zu vergießen. Irgendwo tief in meinem Innern haben mir die an mich weitergereichten Gene eines afrikanischen Sklaven zugeflüstert, dass ich ein Narr sei, aber ich habe nicht zugehört. Ich habe jeden Versuch bekämpft, die Täuschung aufzudecken. Und in Taiwan … dort ist dann alles in die Brüche

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