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Die Täuschung

Die Täuschung

Titel: Die Täuschung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caleb Carr
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gegangen. Als ich im Pentagon zu arbeiten begann, war ich ein Gespenst, jemand, der getäuscht worden war und gelernt hatte, andere zu täuschen. Und ich wäre ein Gespenst geblieben, wäre ich nicht Malcolm begegnet. Aber etwas fehlt auch jetzt noch, seit ich bei diesem Team bin.« Er wandte sich mir zu. Seine Miene war entschlossen. »Und Sie , Doktor, werden mir helfen, das in Ordnung zu bringen.«
    Einigermaßen verdutzt fragte ich: »Wieso gerade ich?«
    Als Antwort darauf stand Slayton auf und ging in dem Raum umher. »Psychologie und amerikanische Geschichte, Doktor – ich brauche Ihre Fachkenntnis.« Er verschränkte die Hände und rang sie heftig. »Ich glaube, Sie wären überrascht, wenn Sie wüssten, dass ich mich sehr dafür eingesetzt habe, Sie in dieses Team aufzunehmen.«
    Ich hätte beinahe erstaunt aufgelacht. »Ja, das muss ich zugeben.«
    »Nicht dass es besonders schwierig gewesen wäre, nachdem die anderen Ihr Buch gelesen hatten.« Slayton nahm ein Exemplar der Psychologischen Geschichte der Vereinigten Staaten zur Hand, das auf der Konsole lag, und begann, darin zu blättern. »Und Ihr Bild gesehen hatten«, fuhr er fort und klang einen Moment lang wie ein verständnisvoller, ein wenig missbilligender Vater. »Da stand Ihre Wahl so gut wie fest. Aber ich war es, der die anderen auf Sie aufmerksam gemacht hat.« Er hörte auf, in dem Buch zu blättern, und konzentrierte sich auf eine bestimmte Seite, dann warf er mir einen nachdenklichen Blick zu. »Glauben Sie wirklich, der Tod von Jeffersons Mutter hatte etwas damit zu tun, dass er die Unabhängigkeitserklärung verfasst hat?«
    Ich wählte meine Worte sorgfältiger als in dem Buch: »Ich hatte schon immer den Eindruck, dass die beiden Ereignisse zeitlich zu nah beieinander lagen, als dass es ein Zufall sein konnte. Nach allem, was man weiß, hatten sie eine schwierige Beziehung.«
    Slayton nickte. »Es gab eine Zeit, da hätte mich ein solcher Gedanke angewidert, Doktor. Da hätte mich dieses ganze Buch angewidert. Sie legen die ganze amerikanische Nation gegen ihren Willen auf die Couch und stellen fest, dass sie einen Haufen Neurosen hat.«
    »Erheblich mehr als nur Neurosen«, verbesserte ich.
    »Ja«, sagte Slayton. »Und wie gesagt, früher einmal hätte ich Sie dafür verflucht. Aber jetzt …« Seine Stimme verstummte erneut, während sich sein Blick auf das tanzende Licht auf dem Fußboden heftete.
    »Colonel«, sagte ich, »bitte glauben Sie mir, ich will Ihre Gefühle nicht klein reden, aber was Sie durchmachen, ist nichts Neues in der amerikanischen Geschichte, das ist Ihnen doch sicher klar. Die ›Täuschung‹, die Sie schildern, ist nur das Bedürfnis, an die naturgegebene weltanschauliche und ethische Überlegenheit der Vereinigten Staaten zu glauben – an das, was man im Allgemeinen als unsere moralische Sonderstellung bezeichnet. Dieses Bedürfnis hatten wir schon von Anfang an. Jedes Land begeht schwere Verbrechen, um eine Position unangreifbarer Stärke zu erlangen; da war unseres keine Ausnahme. Und man muss einen Weg finden, diese Verbrechen zu rechtfertigen, damit die Menschen mit ihnen leben können.«
    »Wie wahr«, sagte Slayton, immer noch mit gesenktem Blick. »Aber Sie und ich werden den Glauben an diese Sonderstellung in seinen Grundfesten erschüttern.«
    Ich lief mit meiner tröstlichen kleinen Ansprache plötzlich ins Leere. »Wirklich?«
    Slayton nickte langsam, dann tauchte er abrupt aus seinem Tagtraum empor, drehte seinen Stuhl zu meinem und setzte sich. »Ich habe vor einer Stunde mit Malcolm gesprochen. Er war sehr zornig über den Angriff auf Afghanistan, obwohl es uns gelungen ist, die Leute zu evakuieren. Er hat sich mit meinem Vorschlag einverstanden erklärt – eben jene Heuchelei, die immer für alles vernünftige Gründe findet, von der Versklavung meiner Vorfahren bis zu diesem Angriff auf Afghanistan, wird die Zielscheibe unseres nächsten Jobs sein. Er überlässt es Ihnen und mir, die Sache auszuarbeiten.«
    »Oh.« Ich verdaute das, so gut ich konnte: Ich hatte damit gerechnet, dass ich bei der nächsten Unternehmung mitmachen würde, aber nicht, dass ich sie planen sollte. »Tja – hatten Sie da an etwas Bestimmtes gedacht?«
    »Noch nicht«, antwortete Slayton. »Ich habe mit Ihrem Buch hier gesessen und mir etwas auszudenken versucht, aber jedes Mal, wenn ich damit anfange, verliere ich mich dermaßen in …«
    Er hielt plötzlich inne und neigte den Kopf, während er auf die

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