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Die Täuschung

Die Täuschung

Titel: Die Täuschung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caleb Carr
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bezeichnet, oder wie unendlich groß das Spektrum der Farben in dem ist, was man im Allgemeinen mit dem abschätzigen Ausdruck »verbrannte Erde« belegt? Und welche Prosa wäre wohl geeignet für die Übelkeit erregenden Bilder jener Abertausende grausam verbrannter und zerfetzter menschlicher Leiber, lebendig wie tot, die nicht sofort verdampft waren? Dennoch konnte ich mich nicht davon abwenden. Ich habe einmal gehört, Zerstörung habe perverserweise etwas überaus Faszinierendes; aber ich hätte nie damit gerechnet, dies an mir selbst durch einen solchen Albtraum bestätigt zu sehen.
    Der Bodennullpunkt der Explosion war, wie zu erwarten, der Kreml gewesen, hinter dessen Mauern der wahnsinnige Josef Stalin einst gepfefferten Wodka getrunken und einen Völkermord geplant hatte, wenn auch nicht denjenigen, an dem er in Dov Eshkols Augen die Mitschuld trug. Von diesem Bauwerk und dem umliegenden Stadtteil war natürlich nichts übrig geblieben; ebenso wenig vom Roten Platz, dem Geschäftsviertel Twerskaja, das Stalin persönlich neu entworfen hatte, von dem schicken Arbatskaja oder dem mittelalterlichen Vorort Zamoskworetchje jenseits der Moskwa. Die Bombe war stark genug gewesen, um der Stadt und ganz Russland das Herz herauszureißen – nur um eine vermeintliche Sünde zu rächen, an deren Realität der völlig aus dem Gleichgewicht geratene Eshkol offenbar verzweifelt geglaubt hatte. Und zwar nur damit er sein brutales Festhalten an dem, was er für Treue gegenüber seinen Vorfahren hielt, endlich rechtfertigen und sich in den imaginierten Augen all jener, die vor so langer Zeit gestorben waren, als würdig erweisen konnte.
    Mundus vult decipi.
    Der trostlose Rundflug durch die verwüstete Stadt, den Malcolm für so unerlässlich gehalten hatte, erwies sich schließlich als zu viel für ihn: Schuldgefühl, Erschöpfung und Schock riefen in Verbindung mit seiner chronischen Schwäche eine Krise hervor, die, glaube ich, keinen von uns anderen überraschte. In der Tat kommt es mir jetzt wie ein Wunder vor, dass nicht noch mehr von unserer Gruppe unter der Last des schrecklichen Anblicks zusammenbrachen. Colonel Slayton legte sich wieder einmal den linken Arm des leidgeprüften Malcolm um die Schultern, hob dessen stark untergewichtigen Körper mit dem rechten Arm vom Fußboden hoch und machte sich auf den Weg zum Heck des Schiffes. Larissa schmiegte sich für einen Moment eng an mich, weil sie irgendwie ahnte – und zwar zu Recht –, dass aufgrund dessen, was wir gerade gesehen hatten, alles anders geworden war; dann eilte sie davon, um sich um ihren Bruder zu kümmern, und hielt seine herabhängende rechte Hand, während Slayton ihn trug. Eli stellte das Ruder des Schiffes auf einen vorprogrammierten Kurs nach St. Kilda ein, dann gingen endlich auch wir anderen hinaus. Jeder wollte allein sein, um mit dem Unbegreiflichen zurande zu kommen.
    Noch bevor wir die schottische Küste erreichten, war mir klar geworden, dass ich mich nicht länger an der Verwirklichung von Malcolms großem Plan beteiligen konnte. Die Zweifel an seiner Arbeit, die ich vielleicht schon seit den ersten Meldungen über den Mann hätte hegen sollen, den wir später unter dem Namen Dov Eshkol kennen lernten – einen Mann mit der krankhaften Bereitschaft, sich von gefälschten Informationen auffressen zu lassen, einen Mann, der tatsächlich bereit war, wegen dieser Informationen in beispiellosem Maßstab zu morden –, erzeugten jetzt ein betäubendes Crescendo in meinem Schädel. Wie viele andere Dov Eshkols liefen noch unbehelligt herum? Wie konnten wir jemals riskieren, weitere derartige Katastrophen heraufzubeschwören, indem wir neue Täuschungsmanöver ausheckten? Und waren Malcolms Klagen, die Welt sei nicht bereit, seine raffinierten Lügen als eben solche zu akzeptieren, nun nicht auf grauenhafte Weise bestätigt worden? Was Malcolm und die anderen taten, würde nicht dazu führen, dass sich die Menschheit in geringerem Maße von Informationen in Verzückung versetzen und berauschen lassen würde, das erkannte ich nun. Und es ließ sich keineswegs ganz von der Hand weisen, dass wir zumindest indirekt die Verantwortung dafür trugen, einen Wahnsinnigen über die Schwelle getrieben zu haben. Aus all diesen Gründen konnte ich bei diesem Unternehmen nicht mehr mit von der Partie sein.
    Auch wenn es mir schwer fiel, zu diesen intellektuellen und moralischen Schlussfolgerungen zu gelangen, es schien geradezu ein Kinderspiel, verglichen

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