Die Täuschung
Sie gab mir einen raschen, zärtlichen Kuss. »Du fehlst mir.«
Ich strich ihr mit einer Hand durch die silbernen Haare und lächelte. »Es war schlimm.«
Daraufhin hielt sie mich noch fester. »Sehr schlimm«, sagte sie leise.
»Larissa«, flüsterte ich. »Da ist etwas …« Ich schaute ihr in die Augen und hätte dort gern Neugier gesehen, fand jedoch nur völlige Erschöpfung. »Herrje, du musst dich ausruhen.«
Sie nickte, brachte jedoch die Frage heraus: »Was denn?«
»Darüber können wir später sprechen«, antwortete ich, weil ich glaubte, wir würden noch jede Menge Zeit dazu haben. Wie ein Geliebter auf Freiersfüßen wollte ich erst mit ihrem Bruder reden, bevor ich ihr selbst die Idee unterbreitete. »Ruh dich jetzt erst einmal aus.«
Sie seufzte dankbar, gab mir noch einen Kuss und marschierte müde davon, wobei sie die Tür zur Unterkunft ihres Bruders einen Spalt breit offen stehen ließ.
Als ich hineinging, wusste ich genau, was ich sagen wollte, und hoffte, dass Malcolm mein Vorhaben billigen würde; kurz, ich hatte keine Ahnung, dass er im Begriff stand, mir das größte seiner vielen Geheimnisse – oder was er dafür hielt – zu enthüllen, eine so bizarre und unglaubliche Geschichte, dass es für mich nur eine Schlussfolgerung gab: Er hatte wirklich und wahrhaftig den Verstand verloren.
42
M alcolms Unterkunft in der Anlage war noch spartanischer als seine Kabine an Bord des Schiffes. Mir schien, dass sie nur wenige Annehmlichkeiten bot, die man nicht auch schon vor zweihundert Jahren auf der damals noch dünn besiedelten Insel Hirta hätte finden können. Ähnlich wie in meinem eigenen Zimmer gab auch hier ein großes Fenster den Blick auf einen felsigen, geheimnisvollen Küstenstreifen frei, und vor diesem Fenster saß Malcolm in seinem Rollstuhl, ins weiche Sonnenlicht der äußeren Hebriden getaucht, und beobachtete die Hunderte von Meeresvögeln auf den Felsen mit jener naiven Begeisterung, die ich schon öfters auf seinen Zügen gesehen hatte. Sie war ein deutlicher Hinweis darauf, dass der kleine Junge, den man vor all diesen Jahren in jene höllische Klinik gesteckt hatte, daran nicht vollständig zerbrochen war; doch paradoxerweise hätte mich gerade dieser kindliche Gesichtsausdruck daran erinnern sollen, in welchem Maße Malcolm von Larissa abhängig war, und mir klar machen müssen, dass der Gedanke vollkommen absurd war, er könnte es billigen, wenn ich mit ihr wegging.
Malcolm spürte meine Anwesenheit, machte jedoch keine Anstalten, sich zu mir umzudrehen. »Gideon«, sagte er in einem Ton, aus dem keine echte Stärke sprach, sondern eher das Bemühen, Stärke zu zeigen. Er machte eine kurze Pause, in der ich mich darauf vorbereitete, ihm mein Anliegen vorzutragen; aber bevor ich etwas sagen konnte, fragte er: »Sind die Materialien für Ihren Washington-Coup noch an Ort und Stelle?«
Ich hatte bereits den Mund geöffnet, als diese Frage kam; nun schien mir der Unterkiefer wirklich bis zum Fußboden herunterzuklappen. »Wie bitte?«, sagte ich leise.
»Ihr Washington-Coup«, wiederholte er, ohne den Blick von den Vögeln zu wenden. »Wie lange brauchen Sie, um die erforderlichen Vorbereitungen zu treffen?«
Es gelang mir irgendwie, mich wieder einigermaßen zu sammeln. »Das ist nicht Ihr Ernst«, brachte ich heraus.
Malcolm drehte sich immer noch nicht um. Er nickte, als hätte er mit einer solchen Antwort gerechnet. »Sie denken, wir sollten unsere Arbeit wegen der Geschehnisse in Moskau zeitweilig einstellen. Sie denken, so etwas könnte wieder passieren.«
In diesem Moment verflüchtigte sich jede Selbsttäuschung; ich fühlte mich, als würde ich plötzlich eine große Menge Blut verlieren. Ich ging ein paar unsichere Schritte zu einem Mahagonistuhl mit gerader Rückenlehne und sank darauf nieder, als mir mit einem Mal die Torheit meiner jüngsten Pläne und das Ausmaß von Malcolms Engagement für sein Unternehmen bewusst wurde. Da mir gefühlsbetonte Einwände und Erklärungen in Anbetracht der Lage zwecklos erschienen, antwortete ich ihm in so vernünftigem und ernstem Ton wie nur möglich: »Malcolm – Sie haben selbst gesagt, dass Ihre Arbeit von Natur aus mit erheblichen Problemen behaftet ist.«
»Was ich gesagt habe«, antwortete Malcolm leise, aber mit Nachdruck, »war, dass wir zu gute Arbeit geleistet haben. Dov Eshkol hat das bewiesen.«
Das war eine nahezu unglaubliche Aussage. »Ja. So kann man das wohl sagen.«
»Also lernen wir dazu und
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