Die Tarotspielerin: Erster Band der Tarot-Trilogie (German Edition)
Stirnseite der zum Hufeisen aufgestellten Tafel aufgetragen und vor van Berck platziert. Der Küchenchef reichte dem Hausherrn ein blank gewetztes Messer und eine Vorlegegabel.
»Zu früh«, zischte der Kaufmann. »Der Ritter ist noch nicht da!« Er hob seinen Weinpokal zum Zeichen, dass die Gäste den Schmaus beginnen sollten, und fiel missmutig in seinen Lehnstuhl zurück.
»Vater«, flüsterte Sidonia, »du musst dieses Monstrum tranchieren, die lebenden Spatzen, die man in seinen Bauch eingenäht hat, werden sonst ersticken!«
»Sollen sie doch«, murrte Claas van Berck. »Ohne den Ritter sind die schönsten Überraschungen verschwendet. Wo bleibt er nur?«
Zimenes, der dem Hausherrn und dessen Tochter schräg gegenübersaß, verzog beim Anblick des Pfaus den Mund. Ihn ekelte schon lange davor, zu essen, was einmal gelebt hatte. Er hatte genug vom Tod gesehen, um dem Leben jeder Kreatur mit Respekt zu begegnen. Ein Tier zu schlachten, um es dann wie lebendig zum Mahl zu servieren, war scheußlich.
Der Ratsherr Schlosstedt, der neben ihm saß, registrierte Gabriels Miene mit Befriedigung. Mit gesenkter Stimme murmelte er. »Dem Kaiser würde solches Gepränge bestimmt nicht zusagen, oder? Er ist ein strenger Christ, heißt es, und sein Hauslehrer, der verstorbene Papst Hadrian, aß sein Leben lang nur Gemüsebrühe. Aber schaut nur diese Sidonia! Sieht aus, als neide sie dem Pfau die Federn. Was für eine eitle Weibsperson.«
Zimenes’ Miene verschloss sich: »Der Kaiser ist ein Freund der Tafelfreuden. Seine Narren lässt er gern Vertilgungsspäße vorführen. Dreißig Taubeneier verschlingen sie auf einen Satz«, sagte er kalt. »Und die Tochter des Kaufmanns braucht kaum Konkurrenz für ihre Erscheinung zu fürchten.«
Sidonia stach die Spitze des Tranchiermessers in den Vogelbauch und schlitzte ihn auf. Tschilpend schlüpften Spatzen hervor und schüttelten ihr Gefieder. Erstaunte Rufe wurden laut, als eine Wolke von Vögeln durch den Saal schwirrte. Mitleidig beobachtete Sidonia die Tiere, als Gabriel über seinen Tisch setzte und sich den Umhang von den Schultern riss. Mit dem Mantel und seinem Degen trieb er die Vögel auf ein unverglastes Bogenfenster zu. Ein Teil von ihnen konnte sicher entkommen.
Gabriel Zimenes verneigte sich in Sidonias Richtung, als habe er seiner Minnedame einen Dienst erwiesen. Die weiblichen Gäste verfolgten es mit neidischem Beifall. Einige mutmaßten noch immer, dass es sich um den Ritter von Löwenstein handeln müsse, dem es gefiel, eine Maskerade aufzuführen. Ritter waren extravagante Naturen. Weniger romantisch veranlagte Gäste machten sich Gedanken über die wahren Gefühle der Kaufmannstochter und die Abwesenheit des Verlobten.
Verärgert über die Dreistigkeit von Zimenes sprang van Berck auf. Er gab den Spielleuten auf der Galerie ein Zeichen, zum Tanz aufzuspielen. Er musste den Schmaus und die Gelegenheit zu weiterem Getuschel unterbrechen, um die Festgesellschaft von diesem Spanier abzulenken. Sidonias vorhin gezeigte Abneigung gegen diesen Zimenes schien nicht unbegründet. Jetzt strebte Gabriel Zimenes auf den Tisch van Bercks zu und streckte seine Hand in Richtung Sidonias aus.
»Wie kann er es wagen, er ist wirklich unmöglich«, raunte Claas van Berck seiner Tochter zu, doch die lief hinter dem Tisch hervor und ergriff Gabriels Hand.
Andere Paare nahmen dies zum Zeichen, um sich zu einem Schreittanz in der Mitte des Saales aufzureihen. Sidonia stellte sich dem Spanier gegenüber. Zu den Takten einer Pavane schritten sie aufeinander zu, umkreisten sich mit gemessenen Schritten, berührten einander bei den Fingerspitzen und durchschritten das Spalier der Paare.
»Ich sehe, Ihr habt ein Herz für leidende Kreaturen«, flüsterte der Spanier Sidonia zu, ohne ihr das Gesicht zuzuwenden. »Und wisst mit einem Messer umzugehen.«
Sidonia hielt die Augen ebenfalls starr geradeaus gerichtet. »Spricht das Messer für mein Herz?«
»Mehr als Eure Worte. Genau wie Euer gestriges Eintreten für die Seiltänzerin. Wo habt Ihr das Kind hingebracht?«
Sidonia ließ seine Hand los und reihte sich, am Ende des Menschenspaliers angekommen, wieder unter die Damen, während Zimenes ihr gegenüber seinen Platz einnahm. Endlich trieb die Musik sie wieder zueinander hin.
»Nun, wo ist Lunetta?«
»In Sicherheit.«
»Nicht, solange Euer Ritter nicht erscheint! Ein ausgesprochen unpünktlicher Gast.«
Sidonia schnappte nach Luft. Wieso machte dieser Spanier sich
Weitere Kostenlose Bücher