Die Tarotspielerin: Erster Band der Tarot-Trilogie (German Edition)
verabschiedete sich der Hirte. Die Männer stiegen eine schmale Treppe hinauf. Elena nahm einen rußenden Kienspan und geleitete Sidonia zum Heuschober, der auf Ernte zu warten schien. Unter dem Arm trug sie ein Laken. Damit bereitete sie Sidonia ein Lager über frisch aufgehäuftem Stroh, wünschte ihr eine Gute Nacht und verschwand.
Wenig später verlosch das Licht im Haus. Das Tal versank in Dunkelheit, auf fernen Höhen ertönte Wolfsgeheul. Der Wind trug es über das geschützte Tal hinweg. Jeder Wanderer würde einen Bogen um dieses Tal machen, und sie war mitten darin. Sidonia nahm sich vor, wach zu bleiben. Hier gab es ein Geheimnis zu entdecken, und dieses Geheimnis hatte mit Padre Fadrique zu tun. Vielleicht sogar mit Gabriel Zimenes?
Die Nacht verstrich ereignislos. Zitternd schlief Sidonia endlich ein. Der Schrei eines Hahnes und der melodiöse Klang der Glocke weckten sie.
Elena setzte ihr eine Grütze vor, die mit Honig gesüßt war. Die Männer waren bereits in die Felder und Obstgärten aufgebrochen. Am Morgen half sie Elena, die Hühner zu versorgen, lernte den Kamin gründlich zu fegen, das Stroh der Betten zu wenden und nach Ungeziefer zu untersuchen, und ging ihr bei der Zubereitung von Brotteig zur Hand, wobei sie sich wenig geschickt anstellte.
»Du musst ihn ruhig und gleichmäßig kneten! Deine Hast verdirbt ihn.«
Sidonia biss sich auf die Lippen. Mein Gott, sie war sogar zu ungeduldig, um ein simples Brot herzustellen. Sie bewunderte Elenas Tüchtigkeit und die stille Freude, mit der sie ihren Arbeiten nachging. Sie sah eine Frau, die ihr Leben liebte und jede Minute ihres Tages mit Beschäftigung auszufüllen wusste, ohne sich zu erschöpfen. Vielleicht war das der Lohn für ein Leben in diesem abgeschiedenen Tal. Man kannte nichts von den Verlockungen, aber auch nichts von den Schmerzen der Welt.
Gegen Mittag begleitete sie Elena zum Backhaus, verfolgt von den Blicken anderer Dorfbewohner. Niemand sprach Elena auf ihren Gast an, was seltsam genug war. Gemeinsam besuchten sie die Mittagsmesse in der Dorfkirche. Nicht nur die Glocke, so stellte Sidonia beim Blick auf den kunstvollen Altar fest, war ungewöhnlich.
Von einem hohen Kreuz lächelte ein so lebensgetreu gestalteter Jesus herab, dass man meinte, er würde im nächsten Moment seine Lippen öffnen, um die Botschaft seiner Auferstehung zu verkünden. Seine Augen waren dunkel. Sidonia versank in seinem Blick, erkannte Zuversicht darin und milden Spott. Sie fühlte sich seltsam getröstet und hingezogen zu dem Leidenden am Kreuz, der über all sein Leid zu triumphieren schien, bis jähes Entsetzen sie aufspringen ließ. Diese Augen! Nein, es gab keinen Zweifel. Es waren die Augen von Gabriel Zimenes. Schwindelnd suchte sie Halt an der Vorderbank, keuchte. Die Blicke der anderen Betenden fuhren herum. Sidonia beachtete sie nicht. Still liefen Tränen über ihr Gesicht. Elena legte die Hand auf ihre Rechte, deren Knöchel weiß hervortraten, während sie sich in das Holz krallte.
»Er darf nicht tot sein«, flüsterte Sidonia tonlos. »Er lebt! Er muss leben.«
»Natürlich lebt er. Der Herr ist ewig, der Tod kann ihm nichts anhaben«, sagte Elena und drückte ihre Hand fester auf die Sidonias. Es war eine warme, kräftige Hand, rau von Schwielen. Um sie brandete feierlicher Gesang auf. Die kleine Gemeinde erhob sich zum Agnus Dei. Sidonia weinte, bis keine Tränen mehr kamen.
Niemand schien an ihrem Betragen Anstoß zu nehmen, und das war ein Trost, wenn auch keiner, der den wütenden Schmerz in ihr ersticken konnte. Warum hatte Zimenes sein Leben so leichtfertig hingegeben? Warum hatte er nicht wie sie versucht zu kämpfen, weiterzumachen, irgendwie zu überleben? Wenigstens das, wenn Aleander schon nicht zu besiegen war. Man warf sein Leben nicht einfach fort.
Sie kehrten schweigend ins Haus zurück. Elenas Mann Enrique und ihr Sohn Jona saßen bereits zu Tisch, und die Hausfrau beeilte sich, Käse, Wein und Fladenbrot aufzutragen.
Nach dem Essen sprach Jona sie an. »Ich werde dir am Nachmittag das Tal zeigen«, sagte er und lächelte unsicher.
»Hast du nicht genug auf dem Feld zu tun?«, fragte Elena scharf.
»Lass ihn nur«, erwiderte ihr Mann Enrique ruhig. »Es ist Samstag, und was zu tun ist, schaffe ich allein.«
Mit argwöhnischen Blicken verfolgte Elena die jungen Leute, als sie zum Bach aufbrachen, der das Tal durchfloss und fruchtbar machte. Sie gingen schweigend durch das Dorf und passierten ein Rauchhaus,
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