Die Tarotspielerin: Erster Band der Tarot-Trilogie (German Edition)
komm herein, und sei unser Gast. Jona und Enrique werden gleich von den Feldern kommen.«
Noch einmal streifte sie Sidonia mit misstrauischem Blick. Dann bedeutete sie ihr mit einer Kopfbewegung, ihnen zu folgen.
Das Innere des Hauses wurde vom Herdfeuer erleuchtet. Alles war sauber und roch nach trockenen Kräutern. Elena wies Sidonia und dem Hirten einen Platz an einem Eichentisch zu, suchte Holzschalen und Löffel zusammen und rührte in einem schwarzen Eisenkessel. Zwei Männer erschienen wenig später und tauschten vorsichtige Blicke mit dem Hirten. Dann gingen sie hinaus, um die Tiere zu versorgen und sich zu waschen.
Sidonia schnupperte an dem ihr angebotenen Becher. Er enthielt klares Wasser. Sie trank mit tiefen Zügen und wischte sich den Mund.
»Wie ist dein Name?«, fragte sie endlich ihren Begleiter.
»Man nennt mich nur el pastor , den Hirten.«
»Du bist nicht hier zuhause?«
Der Hirte lächelte. »Ein Hirte ist bei seiner Herde zuhause.«
»In einem Kloster nicht weit von hier warnte man mich, dass es hier Wölfe gebe.«
»Mönche sind ein schreckhaftes Volk! Die Wölfe tun uns nichts. Von woher kommst du genau?«
Sidonia runzelte die Stirn. Der Mann schien ihr wenig auskunftfreudig, und überhaupt hatte dieses Tal etwas Unwirkliches, so als gehöre es nicht in diese Welt. Das Gesicht des Hirten gab ihr Rätsel auf, seine fleischlose, sehr gerade Nase, die klugen Augen unter geschwungenen Brauen, der gestutzte Bart und vor allem seine Sprache. Sie war gewählt und klar, einem Städter eher gemäß als einem Landbewohner, genau wie der kastilische Akzent von Dona Elena. Auch die Truhe, aus der sie ein Leinentuch hervorholte, um damit den Tisch zu bedecken, schien nicht in ein abgelegenes Bergdorf zu passen. Das Tuch war geflickt, musste aber einmal kostbar gewesen sein.
Statt dem Hirten Antwort zu geben, stellte Sidonia eine weitere Frage. »Wie heißt dieses Dorf und wie die nächstgelegene Stadt?«
»Du erzählst nicht gern von dir?«
»Was sollte eine einfache Pilgerin schon zu erzählen haben?«
»Hier im Valle d’Immaculata – so heißt unser Tal – wissen wir gern über Fremde Bescheid, selbst über die einfachsten. Unsere Erfahrung lehrt uns, dass jeder Mensch eine spannende Geschichte hat.«
Elena unterbrach das Geplänkel, indem sie den heißen Topf auf einem Eisenring in der Mitte des Tisches absetzte, Horn-löffel und Schüsseln verteilte. Draußen begann die Glocke des Kirchturms zu läuten. Kein dürres Bimmeln, sondern ein schmelzendes, voluminöses Geräusch, das das ganze Tal zu füllen vermochte.
»Was für ein Klang!«, entfuhr es Sidonia verwundert.
»Ja«, bestätigte der Hirte, »sie haben einen der besten Glockengießer von ganz Spanien hier. Und dieses Geläut ist sein Meisterwerk. Es hat die Tonfolge der Kathedrale von Toledo.«
»Es gibt einen Glockengießer in diesem Kuhdorf?«
Die Männer kehrten ins Haus zurück, und Sidonia erhielt keine Antwort. Schweigend falteten alle die Hände und schauten zu Sidonia hin.
»Möchtest du ein Tischgebet sprechen?«, fragte der Hirte. »Vielleicht einen Psalm?«
Sidonia betrachtete die Menschen rund um den Tisch, ihre Mienen waren um Ausdruckslosigkeit bemüht, sie wirkten starr, und doch fühlte sie die gespannte Erwartung, die über der Szene lag.
Sidonia räusperte sich: »Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, von dort wird mir Hilfe kommen.« Ruhig sprach sie den Psalm, soweit sie ihn kannte. Der Hirte schickte ein Amen hinterher, dann aßen alle schweigend. Sidonia spürte die Blicke des jüngeren Mannes, dessen Name Jona war, auf sich ruhen.
Er war kaum dem Knabenalter entwachsen, auf seinen Wangen lagen bläuliche Bartschatten. Etwas in seinen Augen ließ sie schaudern. Lange versuchte sie den Ausdruck zu deuten. War es Wollust? Nein, es war etwas weniger Anzügliches und doch beunruhigend. Endlich erkannte sie, dass es brennende Sehnsucht war.
Sie kannte diesen Blick von Lambert, doch der hatte ihn nie auf Mädchen gelenkt. Mädchen? Sie spürte eine kalte Hand an ihrem Herzen. Sie war kein Mädchen mehr. Sah dieser junge Mann, was sie so sorgsam vor aller Welt zu verbergen wünschte? Weckte das sein Interesse? Abweisend erwiderte sie seine Blicke, bis er errötend die Lider senkte.
Als Elena die Schüsseln einsammelte, schenkte sie Sidonia ein knappes Lächeln. »Komm mit, ich zeige dir deinen Schlafplatz.«
»Ich bin nicht müde.«
»Wir gehen hier früh zu Bett.«
Wie auf ein Stichwort
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