Die Tarotspielerin: Erster Band der Tarot-Trilogie (German Edition)
schmerzte Sidonia und machte sie zugleich wütend. Was wusste dieser grüne Junge denn von ihr? Wie wichtig nahm er allein seine Wünsche, und wie unbedacht verschenkte er seine streunenden Gefühle?
So unbedacht wie du noch vor wenigen Monaten, warnte eine innere Stimme und mit mehr Recht. Jona ist ein Mann, und seine Wahlmöglichkeiten in diesem Tal sind geringer als deine damals in Köln.
9
Auch in dieser Nacht schlief Sidonia nicht. Ungeduldig wartete sie, bis der Mond rund und gelb wie Butter über den Gipfeln aufstieg. Die Glocke schlug die Stunden. Als Sidonia elf Schläge zählte, wurde ihre Nachtwache belohnt. Durch die offene Tür des Heuschobers sah sie, dass im Haus ein Licht entzündet wurde. Still erhob sie sich von ihrem Lager und schlich zum Haus hinüber. Eben wollte sie ihr Ohr an die Tür legen, als sie Schatten über den Weg vor dem Brunnen huschen sah.
Sidonia lief schnell um das Haus herum und fand ein Fenster, dessen Luken nur halb zugeschlagen waren. Stimmen drangen zu ihr hinaus. Die Tür wurde geöffnet und andere Dorfbewohner mit heiseren Worten begrüßt. Sie schob ihren Kopf nach oben und spähte durch einen Spalt zwischen den Fensterluken. Um den Esstisch hockten sieben Männer und Elena.
Sie begannen ihr Gespräch flüsternd, doch bald hoben sich erregte Stimmen. »Eine Frau und ganz alleine unterwegs! Das kann nicht mit rechten Dingen zugehen«, empörte sich Elena. »Vielleicht ist sie eine Gauklerin oder Hure. Sie hat diesen wissenden Blick!«
»Mutter«, antwortete Jona, »sie kannte den Psalm. Sie kam mit dem Maultier, Bruder Simuel muss sie geschickt haben, und gerade weil sie allein kam, können wir sicher sein, dass die Verzweiflung sie trieb.«
»Oder die Santa Hermandad«, warf mit ruhiger Stimme ein Mann im Priestergewand ein. »Ich sah ihre Reiter heute sehr früh im Tal nach Carrión umherreiten, sie suchen jemanden.«
»Dann müssen wir sie erst recht aufnehmen«, sagte Jona hitzig, »sie sagt, ihr Mann werde verfolgt, sei vielleicht tot.«
Elena betrachtete ihren Sohn voll Sorge. »Du solltest dich nicht von einem schönen Gesicht täuschen lassen, Jona. Der Versucher nimmt viele Gestalten an. Und von diesem Mädchen geht Gefahr aus, das spüre ich. Sie mag ein schweres Los zu tragen haben, aber sie trägt auch Unheil mit sich und sie ist nicht reif für ein Leben in unserer Mitte.«
Sie bekreuzigte sich. Jona sprang auf und stieß seinen Stuhl nach hinten. »Immer seid ihr voller Angst! Keinem Menschen traut ihr, ist das christlich? Und wie soll es mit dem Tal weitergehen, wenn wir keine Fremden aufnehmen? Soll am Ende eine Schwester den eigenen Bruder heiraten?«
»Die Reiter der Bruderschaft könnten nach Fadrique suchen«, warf der Priester rasch ein.
Elenas Mann Enrique schüttelte den Kopf. »Diese Suche haben sie aufgegeben. Aber was, wenn die Frau ihr Spitzel ist?«
Ein Pochen an der Tür unterbrach ihn. Wieder wurde die Tür geöffnet. Der Hirte trat ein. Sidonia sah, dass sein Gesicht grau vor Müdigkeit war. »Ich dachte mir, dass ihr beisammensitzt und euch beratet.«
»Es hat nichts mit dir zu tun«, sagte der Priester hastig, »das weißt du. Du bist immer willkommen.«
Der alte Hirte umklammerte seinen Stab. »Ich war heute beim Kloster, um das Maultier zurückzubringen.«
»Konnte der Abt dir mehr über die Frau berichten?«, fragte der Priester.
»Bruder Simuel ist tot«, sagte der Hirte.
»Tot? Madre de Dios , so plötzlich? Er war alt, aber ...«
»Er starb nicht am Alter. Er sprang vom Turm.«
Die Menschen um den Tisch erstarrten. Elena begann, ein Gebet zu murmeln.
Der Priester fand zuerst die Sprache wieder. »Wieso das? Warum hat er eine so schreckliche Sünde begangen?«
»Um die Sünde des Verrats zu vermeiden. Die Männer der Heiligen Bruderschaft haben sein Kloster im Morgengrauen aufgesucht und entdeckten ein wertvolles Reittier, das einem Vertreter der Heiligen Inquisition gestohlen wurde.«
Sidonia hielt auf ihrem Lauschposten voll Entsetzen die Luft an.
Im Haus fuhr der Hirte mit tonloser Stimme fort: »Simuel handelte rasch. Er verschloss sich im Glockenturm und stürzte sich von oben in die Tiefe, seinen Verfolgern vor die Füße.«
Elena begann lauter zu beten, einige der Versammelten fielen mit ein.
»Aber was geschah mit den anderen Brüdern?«
»Zwei Männer nahmen sie mit nach Santander. Man wird sie dem peinlichen Verhör unterwerfen.«
»Mein Gott«, stöhnte der Priester, »dann sind wir
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