Die Tarotspielerin: Erster Band der Tarot-Trilogie (German Edition)
Todesfalle, und nächtigen wollte sie in den Steilhängen ebenfalls nicht. Zu groß war die Gefahr, vom Schlaf übermannt in den Tod zu rollen.
Dem Maultier schien der Weg vertraut, mal kletterte es ein paar Schritte in den Hang hinein, um ein tückisches Steilstück zu umgehen, dann wagte es sich weit in den Abhang hinein, um einen Geröllhaufen zu meiden. Sidonia starrte auf sein schaukelndes Hinterteil, um dem mäandernden Weg zu folgen. Das Tier hatte die besseren Ortskenntnisse.
Der Bewuchs wurde dichter, zinngraue Bäume mit flachen Kronen krallten sich in den Fels. Endlich zeigte sich rechts von ihr ein Grashang, auf dem Ziegen wiederkäuten und sie aus gelben Augen betrachteten. Zahme Ziegen! Der Maulesel trabte auf sie zu. Menschen konnten nicht fern sein.
Im Krebsgang mühte Sidonia sich den Hang hinab, wurde dabei plötzlich schneller als der Maulesel und glitt auf eine Kante zu, die sich als Felsvorsprung entpuppte. Mit vor Entsetzen geweiteten Augen starrte sie in den Abgrund, der unter ihr gähnte. Sie öffnete den Mund zum Schrei, stemmte sich mit den Füßen in das Gras, krallte die Hände in den Untergrund und fühlte in letzter Sekunde eine Hand, die sich in ihren Nacken krallte und sie zurückriss.
»¡Atención!« , warnte ihr Retter, während er sie von der Felskante wegzog. Keuchend arbeitete sich Sidonia rückwärts den Hang hinauf, vorbei an dem Maulesel, der sich eine Pause und ein Maul Gras gönnte.
»Du dämlicher Esel«, schrie Sidonia ihn an. Ihr Retter lachte. Sidonia sah sich zu ihm um. Sie hatte einen kräftigen Hirten erwartet und war erstaunt, einen Greis zu entdecken, der allerdings hochgewachsen war. Er trug einen härenen Hirtenkittel und einen Filzhut und stützte sich auf einen Krummstab. Der Alte betrachtete sie streng. »Verfluche nicht die Dummheit deines Esels, sondern deinen Mangel an Fürsorge«, sagte er in kastilischem Spanisch, das Sidonia ohne Mühe verstand. »Das Tier hatte Hunger.«
»Ich auch«, erwiderte Sidonia. Wieder lachte der Mann. In dieser Einöde schien Sidonia erheblich zu seiner Unterhaltung beizutragen.
8
Zu ihrer Verwunderung führte der Hirte sie wieder hinauf in die Berge, zu einem Wald, der so dicht stand, dass sie den schmalen Pfad, in den er seine Ziegen hineintrieb, zunächst nicht erkannte. Am Ende des Weges sprang ein Hund auf sie zu, den Sidonia zunächst für einen Wolf hielt. Das riesenhafte Tier wedelte eifrig mit dem Schwanz, während der Alte seinen Kopf tätschelte. Sie gingen etwa eine halbe Stunde, dann verbreiterte sich der Pfad zu einem Weg entlang eines Baches, der eiskaltes Wasser führte.
»Hier fließt das Schmelzwasser von den Gipfeln«, erklärte der Hirte, der bislang geschwiegen hatte. »Im Frühjahr schwillt der Bach zu einem reißenden Strom an, dann ist das Tal von der Welt abgeschnitten.«
Bunte Forellen flitzten im Wasser. Sidonia und der Hirte überquerten eine blühende Wiese und stiegen in eine bewaldete Senke hinab, in der bereits Dämmerung herrschte. Sidonia nahm den Geruch von Holzfeuern wahr. Der Weg führte aus dem Wald in ein kleines Tal. Ein Dorf aus etwa fünfundzwanzig Häusern mit steilen Dächern lag inmitten von Feldern und Obstgärten. Über den Häusern erhob sich eine Kirche mit einem eisernen Kreuz auf dem Dach.
Das Maultier lief mit den Ziegen voran auf einen Stall neben einem Steinhaus zu. Eine Frau trat heraus, um Wasser aus einem Brunnen zu schöpfen. Sie wandte den Kopf, sah das Maultier und erstarrte. Sie spähte zum Wald hinüber. Zögernd winkte sie, der Hirte winkte zurück. Als er und Sidonia die Frau erreichten, lächelte sie den Alten kurz an. Ein Netz von Falten umgab ihre dunklen Augen, mit denen sie Sidonia ablehnend musterte. »Wer ist diese Frau?«, fragte sie scharf.
»Sie heißt Sidonia. Ich fand sie in den Bergen«, entgegnete der Hirte.
»Allein?«
»Mit dem Maulesel«, sagte der Hirte.
»Mit dem Maulesel«, wiederholte die Frau nachdenklich. Sidonia schaute zwischen beiden hin und her, doch sie schienen nicht gewillt, ihr Näheres über das findige Tier zu verraten.
»Sie hat Hunger«, unterbrach der Hirte die Stille. »Steht eine sopa auf deinem Herd?«
Die Alte schnaubte. »Was denkst du?«
»Ich denke, dass du im ganzen Tal die köstlichste sopa aus Zicklein und Kastanien zu bereiten weißt, Dona Elena, aber verrate es keiner deiner Nachbarinnen, sonst bin ich nirgends mehr willkommen und muss hungern.«
Die Frau lächelte kurz. »Du bist ein Schmeichler,
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